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Silent Running
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Konservative Esoterik - Wenn das Bauchgefühl über die Vernunft siegt
Zitat:
Konservative Esoterik
Wenn das Bauchgefühl über die Vernunft siegt
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Konservativ zu sein heißt auch, den Status quo zu lieben. Stellt sich jedoch heraus, dass einige der gepflegten Grundannahmen falsch waren, gibt es nur noch einen Ausweg.
23.09.2020, 16.32 Uhr

Horst Seehofer: Posterboy der konservativen Esoterik
Foto: MARKUS SCHREIBER / AFP
Konservative Esoterik, die das längst nicht mehr Tragbare mithilfe von Täuschungen, Torheiten und Taschenspielertricks bewahren möchte, ist auf dem Vormarsch. So laufen derzeit gerade die Selbstdemontage-Tage konservativer Herren: Merz' Homosexualitätsausfall, Seehofers Rassismusstudientrotz, noch mal Merz mit "Wir gewöhnen uns ab, zu arbeiten", und als irgendwie liberal-reaktionärer Bonusansatz Christian Lindners sexistische Zote samt der Erklärung, es sei nicht so gemeint gewesen.
Leider ist in diesem Hagel der Wurstkopfigkeit ein Kleinod konservativer Medienarbeit zu wenig beachtet worden. Herbert Reul, der CDU-Innenminister von Nordrhein-Westfalen, wurde im "heute journal" von Marietta Slomka interviewt. Es ging um die Frage, weshalb sich Horst Seehofer so hartnäckig gegen eine wissenschaftliche Studie zu Rassismus bei der Polizei wehrt.
Reul antwortete: "Ich bin mir auch nicht sicher, ob das was bringt, wenn Wissenschaftler jetzt einfach mal eine Untersuchung machen, sondern ich sage, wir brauchen Fakten." Eine gruselige, wissenschaftsfeindliche, sogar antiintellektuelle Haltung blitzt auf.
Aber es ist eben kein Zufall, dass Reul hier Wissenschaft und Fakten gegeneinanderstellt.
Seine antiaufklärerische Formulierung ist gewissermaßen die Essenz der konservativen Esoterik, die den heimlichen Wahlspruch hat: "Die Welt ist mein Bauchgefühl." Im Herbst 2020 lässt sich gut erklären, weshalb konservative Esoterik im Moment die Schlagzeilen bestimmt.
Sozial-mediale Kontrolle
Das liegt erstens an der Unerträglichkeit, dass hier Männer einer längst verblichenen Selbstverständlichkeit anhängen, der Bühnenzote, der Herstellung infamer Zusammenhänge, der offenen Faktenleugnung, dem "das existiert nicht, weil es verboten ist".
Es ist ein großes Glück, dass dieser Eso-Konservatismus im sozial-medialen 21. Jahrhundert offenen und harschen Widerspruch erdulden muss. Nicht, dass die Vortragenden daraus unbedingt etwas lernen würden. Man erkennt das an der schrillen Abwehr von Merz und Lindner: stimmt alles gar nicht, böse Unterstellung, war nicht so gemeint.
Für das Publikum ergibt sich ein wichtiger Effekt: Die Chance sinkt, dass beim nächsten Mal eine politisch ernst zu nehmende Person immer noch glaubt, Homosexualität und Pädophilie in einem Satz unterbringen zu müssen.
Selbstzufriedenheit ist eine Stärke der Konservativen
Wichtiger ist der zweite Grund für das Aufflammen konservativer Esoterik. Unabhängig vom gegenwärtigen, merkelbasierten Umfragehoch geht es dem deutschen Partei-Konservatismus nicht besonders gut. Die Frage, was eigentlich nach Angela Merkel kommt, wird selbst für Unionsfans jeden Tag schwieriger zu beantworten. Laschet hat mit seiner erratischen Corona-Performance - Stichwort "Land der Küchenbauer" - viel Führungssouveränität eingebüßt. Merz spricht und handelt noch immer, als fände die Wahl zum CDU-Vorsitzenden im Dezember 1960 statt. Und Röttgen bleibt trotz der Schwäche der anderen beiden immer noch Röttgen.
Auf den ersten Blick könnte man glauben, die konservative Schwäche hinge mit der AfD zusammen. Schließlich ist mit ihr eine rechte Partei entstanden und damit eine Option für sich konservativ gebende Rechte, die sich früher zähneknirschend in Union oder FDP eingefügt hätten. Aber entscheidender für die größer werdende Schwäche des deutschen Partei-Konservatismus sind die zwei Lager, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen:
Die Modernisierungswilligen und die Selbstzufriedenen.
Man darf das nicht als abwertend missverstehen, Selbstzufriedenheit ist eine, wenn nicht die Stärke des Konservatismus. Wer die Union wählt, wählt die Gewissheit, sich nicht verändern zu müssen; das ist für viele Menschen viel wert. Es handelt sich um ein Angebot, das zwischen "Mia san mia" und Lobpreisung des Status quo pendelt und deshalb Ruhe, Ordnung und Bürgerlichkeit verspricht - und dieses Versprechen zum Ärger der Linken und Progressiven überraschend oft hält.
Außer in Zeiten des raschen Wandels. Dann nämlich prallen die selbstzufriedenen Bewahrer auf eine stark veränderte Wirklichkeit. Mit der Realität allerdings kann man ähnlich zielführend diskutieren wie mit einer Herde wütender Büffel. An dieser Front entsteht konservative Esoterik. Konservatismus ist eine werte- und traditionsbasierte, betont rationale Welthaltung. Konservative Esoterik ist ein Trick, um längst als irrational entlarvtem Unfug das Mäntelchen der Vernunft überzuwerfen. Das scheint auch immer häufiger notwendig zu sein.
Aus Grundannahmen wurde Quark
Viele Konservative vertragen nicht gut, dass sich in den letzten zwanzig Jahren eine größere Zahl konservativer Grundannahmen über Welt und Gesellschaft als mittelstark gequirlter Quark herausgestellt haben.
Die Finanzkrise hat den konservativen Neoliberalismus entzaubert. Der nachhaltige Erfolg umfangreicher Sozialsysteme, wie in Skandinavien, hat die missgunstgetriebene, konservative Soziallehre beschädigt. Der Rechtsruck hat die Hoffnung zerstört, rechts von der CSU könne es keine Partei geben.
Das jahrzehntelange Leugnen von rechts*******n Strukturen in Behörden, dass der Mindestlohn gut funktioniert, dass die Ehe für alle nicht zu Sodom und Gomorrha geführt hat, dass struktureller Sexismus und Rassismus mit #metoo und #blacklivesmatter offensiv diskutiert werde.
Der Atomausstieg, das Versagen des Konzepts schwarze Null, die Wucht der Digitalisierung, die Fliehkräfte der EU, die ungeheure Dringlichkeit des Klimawandels, so geht es immer weiter. Die Welt hat sich einfach substanziell anders entwickelt, als konservative Köpfe glaubten. Wenn man in solchen Situationen trotzdem noch auf den gleichen Weg bleiben möchte wie vor dem Wandel, mit den gleichen Instrumenten, den gleichen Sprüchen, den gleichen Überzeugungen - dann hilft eben nur noch konservative Esoterik.
Das Bauchgefühl als Leitlinie
Wie die meisten Formen der Esoterik geht auch die konservative mit größter Gereiztheit einher. Das liegt an der kognitiven Dissonanz, am offensichtlichen Unterschied zwischen dem, was sie sich sagen hören und dem, was sie gezwungen sind zu beobachten. Denn diese Leute sind ja meist intelligent und kultiviert, sie ahnen, dass sie entweder falsch liegen oder auf verlorenem Posten operieren. Es folgt die Flucht in das innere, kleinbürgerliche Bernsteinzimmer der Konservativen: Dieser Ort im eigenen Kopf, wo der Kalender stets auf "gute alte Zeit" steht.
Von außen gleitet diese Gereiztheit leider oft in ein Schauspiel der Erbärmlichkeit ab.
Der "Tagesspiegel" hat recherchiert, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer nicht nur die "taz"-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah für ihren satirischen Beitrag "All Cops are berufsunfähig" wegen Volksverhetzung anzeigen wollte. Sondern wegen Beihilfe auch die Chefredakteurinnen der "taz". Auf Twitter wird schon gewitzelt, dass damit drei Personen beisammen wären, also praktisch eine Bande, eine kriminelle Vereinigung, das sollte für einen internationalen Haftbefehl reichen.
Hier im Wortlaut die Passage, die zu diesen irrwitzigen, trotz Ministeriumswarnung in der "Bild"-Zeitung geäußerten Anzeigenplänen Seehofers geführt haben: "…auf der Halde, wo [die Polizisten] wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten."
Seehofer als Posterboy der konservativen Esoterik schnitzt aus diesen schmalen, satirischen Zeilen beinahe eine Staatskrise. Er stellt damit sein Fühlen über die Vernunft, das eigene Bauchgefühl ist wichtiger und realer als schnöde Fakten aus juristischen Einschätzungen. Wie schon bei der Erklärung, es gäbe keinen Polizeirassismus, weil er schließlich verboten sei. Das ist die Parallele zu Reuls absurdem Gegensatz Wissenschaft versus Fakten.
Natürlich kann man argumentieren, dass Konservatismus schon immer mit dem Bauchgefühl als Leitlinie arbeitet - aber die realitätsaversen Einlassungen von Seehofer, Merz und Reul haben trotzdem eine neue Qualität. Wo weniger zählt, was ist, und mehr, was sich wie anfühlt. Oder vorgestern angefühlt hat. Wo neue Studien und Statistiken dann Beachtung finden, wenn sie in das eigene Weltkonzept passen - und ansonsten von "gesundem Menschenverstand" die Rede ist. Oder von Dingen, die man "den Bürgern nicht mehr vermitteln kann".
Konservative Esoterik ist nichts weniger als die deutsche Variante von "alternativen Fakten". Aber Konservatismus minus Rationalität ist toxischer Politschrott.
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