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Die Weltherrschaft der Mädchen
Zitat:
Fridays for Future
Die Weltherrschaft der Mädchen
Bei den aktuellen Klima-Demos richtet sich der Blick auf die Bühne, auf Greta und Luisa. Dabei wären die nichts ohne ihre wunderbar ernsthafte und unprätentiöse Basis.
Von [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
26. Juli 2019, 6:30 Uhr 75 Kommentare

Mädchen an die Macht! Demonstrantinnen bei einem Klima-Protest im Juni vor dem Berliner Reichstag © Sean Gallup/Getty Images News
Dieser Artikel ist erschienen auf unserer Schriftstellerplattform "Freitext". [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ].
Morgens, halb zehn in Berlin: Ich stehe zwischen Lohnarbeitenden gequetscht in der S-Bahn. Alle schauen in ihr Smartphone, sehen weder die Obdachlosen, die mit müden Gesichtern versuchen, den Straßenfeger loszuwerden, noch die vielen jungen Leute, die mit beschrifteten Plakaten in Gruppen zusammenstehen. Sie tragen vorwiegend Turnbeutel auf dem Rücken, weiße T-Shirts, dazu Jeans und Turnschuhe – ein Look so schlicht, dass er geschlechterübergreifend funktioniert und auch kein Stück auf individuelle Vorlieben wie Musik, politische Ausrichtung, nicht einmal auf die soziale Klasse, schließen lässt. Die jungen Leute sind auf dem Weg in den Invalidenpark, denn es ist Freitag, halb zehn in Deutschland: Heute wird protestiert. Genau wie die Klimakrise kennt die Fridays-for-Future-Bewegung keine Sommerferien.
Junge Leute. Ich betrachte das makellose Gesicht eines Mädchens, das für die typisch unreine Haut von Pubertierenden noch nicht reif genug ist. Vor gar nicht allzu langer Zeit bin ich selbst noch jung gewesen, hier, neben diesen Mädchen in der S-Bahn fühle ich es wieder, diese Jugend, dabei bin ich das schon lange nicht mehr – ein junges Mädchen. Meine Jugend liegt mindestens 25 Jahre zurück und die Tatsache, dass ich mich immer noch jung fühle, lässt vielleicht eher darauf schließen, mit welchen bisher immer als typisch jugendlich geltenden Attributen ich mich in diesen 25 Jahren gegenüber der Klimakrise verhalten habe: naiv, unvernünftig und verantwortungslos. Erst vor ein paar Tagen lud ich gegen alle Sicherheitsbedenken ein Foto von mir [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] hoch. Ich konnte einfach nicht widerstehen, ich wollte unbedingt sehen, wie ich aussehe, wenn ich alt bin. Der Anblick schockierte mich – jedoch nicht das von Falten zerfurchte Gesicht, der Origamimund und die hängenden Backen, sondern dass ich aussah wie meine Mutter, wenn sie gesund und rüstig hätte altern können. So hätte sie mir hier gegenübergesessen, aufrecht und spitzbübisch lächelnd.
Am S-Bahnhof Oranienburger Straße steigen die jungen Menschen aus. Ich folge ihnen Richtung Chausseestraße, wir biegen links ab und laufen vorbei am Naturkundemuseum. Die ersten Polizeiwannen säumen die abgesperrte Straße. Männer und Frauen in gepolsterten Uniformen patrouillieren, die Mädchen vor mir beschleunigen ihren Schritt.
Seit dem Beginn der Proteste im letzten Jahr hatte ich mir fast jeden Freitag vorgenommen, in den Berliner Invalidenpark zu fahren, um zu protestieren. Im letzten Jahr jedoch hatte ich "Wichtigeres" zu tun, als an den Freitagen [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]. Ich schrieb meinen zweiten Roman zu Ende, in dem ich mich mit den Weltuntergangsszenarien meiner eigenen Kindheit und Jugend auseinandersetze. Die basieren jedoch nicht auf klimawissenschaftlichen Fundament, sondern auf den fundamental-christlichen Auslegungen der Zeugen Jehovas. Sechs Jahre lang schrieb ich an diesem neuen Buch – in der Zeit überschlugen sich die Weltereignisse: Millionen Menschen flohen aus ihren von Krieg, Ausbeutung und Dürre zerstörten Heimatländern; rechtspopulistische Parteien übernahmen Regierungen; soziale Medien wie Facebook oder Instagram, die bis dahin eher als private Egospielwiese gegolten hatten, mutierten zu Katalysatoren für Hetze und Buchverkäufe gleichermaßen; und der Klimawandel entwickelte sich zur größten Krise in der Geschichte der Menschheit.
Zitat:

Greta Thunberg - "Die Klimakrise hört nicht auf, weil wir im Urlaub sind"
Die schwedische Klimaaktivistin hat in Berlin vor Tausenden Demonstrantinnen und Demonstranten gesprochen. Sie sind sich einig: Die Politik müsse endlich handeln. © Foto: Paul Zinken/dpa
(das ist ein eingebettetes Video - siehe Quellenlink)
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Die Klimaproteste der Schüler*innen und Studierenden berührten mich besonders, weil ich während des Schreibens meines Romans oft daran denken musste, wieso ich der Welt, in der ich groß geworden bin, den Rücken zugekehrt habe. Die Gründe dafür sind vielfältig: Verliebtheit und Punkrock waren wichtige Katapulte, vor allem aber fühlte ich mich abgestoßen von dem naiven und rücksichtslosen Glauben an einen Gott, der sich durch Tieropfer besänftigen ließ. Ein Gott, der seine eigene Schöpfung derart missachtete, erschien mir grausam und lächerlich zugleich. Insofern erlebte ich den Aufstieg der Protestbewegung um Greta Thunberg gleich als zweifachen Triumph: Erstens den meiner eigenen jugendlichen Ideale und zweitens als Sieg der Erzählungen [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], die – wenn schon nicht in der Literatur, zumindest in der Wirklichkeit – durch Figuren wie Greta Thunberg, Alexandria Ocasio-Cortez, Luisa Neubauer, Genesis Butler, Carola Rackete (allein der Name!) und Emma González einen neuen Stellenwert erlangen.
Noch immer kann ich mich nicht sattsehen an den Bildern dieser jungen Frauen im Netz, vor allem die Instagram–Stories von Alexandria Ocasio-Cortez haben es mir angetan. Ich mag diese einmalige Mischung aus Schnoddrigkeit und Strenge, den Ton, den sie anschlägt, wenn sie andere Kongressabgeordnete herunterputzt und diesen zugleich warmen und kalten Blick, mit dem sie ihre politischen Gegner durchbohrt. Beim Anblick der kurzen Videos, die Ocasio-Cortez meist in ihrer Hood in der Bronx zeigen, rückt für den Bruchteil von Sekunden plötzlich die Vorstellung einer Welt an mich heran, in der diese Mädchen und jungen Frauen die Welt regieren. Es ist ein atemloser Moment – die Vorstellung, in einer Zeit zu leben, in der die Mädchen die Macht hätten.
Vor mir kommt der Invalidenpark in Sicht. Die Mädchen aus der S-Bahn binden sich ihre Turnbeutel fester und drängen sich, Schilder über ihre Köpfe gestreckt, durch die Menge nach vorn. Ich folge ihnen durch den Pulk von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, verliere sie jedoch schnell aus den Augen und bleibe schließlich neben einer Mutter stehen, die ihre Tochter an der Hand hält. Oben auf der Bühne werden Sprechchöre auf Deutsch, Englisch und sogar auf Französisch skandiert:
On’est plus chaud,
Plus chaud,
Plus chaud que le clima.
Die Mutter neben mir applaudiert, das Mädchen flüstert leise auf Französisch mit. Auch sie trägt ein weißes T-Shirt und Jeans. Sie ist höchstens 12 Jahre alt, jedenfalls zu jung, um allein auf eine Großveranstaltung zu gehen.
"Kannst du sehen?", frage ich.
Das Mädchen nickt und lächelt mich schüchtern an. Ich gehe trotzdem einen Schritt zur Seite und versuche, mich klein zu machen, denn hinter mir stehen weitere Mädchen. Zum ersten Mal auf einer Demo muss ich auf Kleinere und Jüngere Rücksicht nehmen, ich – die sonst immer als die Kleinste gilt – versperre anderen die Sicht. Auf der Bühne treten aus den Medien inzwischen bekannte junge Gesichter ans Mikrofon. Sie sprechen über die Verantwortungslosigkeit der Erwachsenen, über das Opfer, das sie als Kinder bringen müssen – ihre Schulausbildung – um gegen die Zerstörung ihrer Zukunft zu demonstrieren.
Wie konnte sich die Welt so schnell verändern?
Links neben mir steht ein Junge, die Haare reichen ihm bis zum Kinn, auf seinem schwarzen Poloshirt sitzt ein Marienkäfer, er kriecht den nackten Arm herauf über die Hand und dann auf das Pappschild, das der Junge hochhält. "Vergib ihnen nicht, Herr, denn sie wissen, was sie tun!" Vorn auf der Bühne ist von Tipping Points die Rede, von der verschwindend geringen Chance, [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], von verkrusteten Ritzen, in die die Bewegung trotzdem kriechen wird, um diese winzige Chance zu ergreifen. Das Mädchen neben mir legt die Hände übers Gesicht.
"Alles okay?", frage ich.
Am liebsten würde ich es umarmen, aber genau diese Geste würde mir so scheinheilig und verlogen vorkommen. Die Mutter scheint das Gleiche wie ich zu denken, sie legt schließlich den Arm um die Schultern ihrer Tochter, aber das Mädchen löst sich aus den Armen, nicht mit der trotzigen Geste einer Pubertierenden, sondern so, als würde es sagen wollen: "Ich bin allein mit dieser Zukunft und das weißt du. Lüg mich nicht an mit diesem Arm, er kann und wird mich in der Zukunft nicht beschützen."
Ich lasse die Schultern hängen und schaue auf den Boden. Es sind nicht nur das schwüle Wetter und die Abgase des Berufsverkehrs, die sich hier in der Nähe des Hauptbahnhofs sammeln, wo die Stadt kaum grün ist. Eine greifbare Trauer und Verzweiflung hängt in der Luft, wie eine Wolke drückt sie uns auf die Köpfe und sorgt für gedämpfte Stimmung, obwohl vorn inzwischen Musik ertönt. Vorsichtig schaue ich hoch. Will denn niemand tanzen? Nein. Viele stehen nur da und umarmen Freundinnen. Nichts von der Wut meiner Jugend, als wir in Solingen gegen Nazis marschierten, nichts vom Spaß, als wir in Bonn Manfred Kanther mit Eiern aus dem Kaufhof bewarfen, bevor wir von der Polizei, den "Bullen", eingekesselt wurden, ist hier zu spüren. Es gibt keine popkulturellen Egos, keinen Style, der sich Bahn brechen, sich über die Sache erheben will, stattdessen Kinder in weißen T-Shirts mit ordentlichen Haaren, die alle aussehen wie aus einem Sofia-Coppola-Film entlaufen.
Ein Sommer der Freiheit
Die Musik rauscht in meinen Ohren und verstummt schließlich. Langsam setzt sich der Demonstrationszug in Richtung Hauptbahnhof in Bewegung. Die Mädchen aus der S-Bahn, die ich aus den Augen verloren hatte, laufen plötzlich wieder vor mir. Eine Weile folge ich ihnen. Tausende Kinder sind auf der Straße. Wie konnte sich die Welt so schnell verändern – so schön und hässlich gleichzeitig werden? Und was bedeutet das fürs Schreiben? Kurz hoffe ich darauf, von den Weltuntergangsszenarien meiner Kindheit insofern zu profitieren, als dass ich darauf konditioniert bin, mir den Kollaps komplexer Gesellschaften vorzustellen. Naiv ist diese Hoffnung – als ob mich allein die fiktive Auseinandersetzung mit dem Weltuntergang davor schützen könnte, und als ob es in einer kollabierten Gesellschaft überhaupt noch Literatur gäbe.
Hinter den Mädchen laufe ich zur Kreuzung.
"Da sitzt ja ein Kanarienvogel", sagt eine plötzlich.
Tatsächlich sitzt da mitten auf der abgesperrten Straße sowas wie ein Kanarienvogel, denn genau genommen sieht er aus wie ein Hybrid aus Spatz und Kanarienvogel. Er schaut zu uns herauf, winzig ist er, mit gelben Federn am Körper und schwarz-braunen Flügeln.
Das Mädchen hockt sich neben den Vogel auf den heißen Asphalt.
"Dem müssen wir helfen!"
Der Kanarienspatz lässt das Mädchen ganz nah heran, doch als sie die Hand nach ihm ausstreckt, legt er den Kopf schief und fliegt über uns hinweg in den nächsten Baum. Die Freundinnen schauen ihm hinterher.
"Der Arme!", sagt eine.
"Nein", sagt eine andere. "Jetzt erlebt er zumindest einen Sommer in Freiheit."
Arm in Arm überqueren die Mädchen die Straße. Ich schaue ihnen noch lange hinterher. Wieder steigt für einen Augenblick die Vorstellung in mir auf, wie es wäre, wenn diese Mädchen die Welt regieren würden, wenn man(n) ihnen die Macht gäbe, und wieder kriege ich Herzklopfen, weil mir für einen Augenblick die Luft wegbleibt. Korekratie – die Herrschaft des Mädchens: Ist sie vielleicht unsere Zukunft? Lohnt es sich darüber zu schreiben, sie als fiktive Utopie literarisch festzuhalten? Es wäre zumindest ein Schritt dahin, sie sich nicht mehr nur in kurzen Augenblicken vorzustellen.
Lesen Sie hier alle Artikel auf [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] von ZEIT ONLINE.
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Quelle: [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
Ein Artikel zum Nachdenken ... mir gefällt diese Idee der "Freitexte" auf Zeit.de sehr sehr gut. Deswegen stelle ich das mal hier auch noch vor:
Zitat:
Über Freitext
"Freitext – Feld für literarisches Denken" gibt der literarischen Weltsicht Raum. Hier schreiben Schriftstellerinnen und Schriftsteller regelmäßig und fortlaufend über Politik, Gesellschaft, Literatur – und ihr Leben.
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"Mitleid und Erbarmen hielten Bilbos Hand zurück. Viele, die leben, verdienen den Tod und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen geben, Frodo? Dann sei nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand. Selbst die ganz Weisen erkennen nicht alle Absichten. Mein Herz sagt mir, dass Gollum noch eine Rolle zu spielen hat, zum Guten oder zum Bösen, ehe das Ende kommt." (Gandalf zu Frodo)
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