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Diplomatie besteht nicht nur aus Abkommen auf Papier.
Zitat:
»Absurde Vorstellung«
Russlands Präsident Medwedew wirft dem Westen Wortbruch vor. Die Nato-Osterweiterung verstoße gegen Zusagen, die 1990 in den Verhandlungen zur deutschen Einheit gegeben worden seien. Dokumente aus westlichen Archiven stützen den russischen Verdacht.
Niemand in Russland kann seiner Wut über die Erweiterung der Nato nach Osten vor Millionenpublikum so ungestüm freien Lauf lassen wie Wiktor Baranez. Der Starkommentator der Boulevardzeitung »Komsomolskaja prawda« ("Wahrheit der Komsomolzen") wettert gern gegen das »heimtückische und draufgängerische« westliche Militärbündnis. Russland müsse endlich aufhören, die Nato als Partner zu sehen.
Warum über gemeinsame Manöver nachdenken, wenn man betrogen worden sei? Die Nato »hat sich mit ihren Kanonen bis an unsere Staatsgrenzen vorgebohrt«, schreibt der Oberst a. D., der unter Boris Jelzin Sprecher des Verteidigungsministers war. Und zwar entgegen allen Versprechungen, die im Prozess der deutschen Einigung gemacht worden seien.
In Moskau herrscht quer durch alle politischen Lager, von den Nationalpatrioten über die Kommunisten bis zur Putin-Partei »Einiges Russland«, ein politischer Konsens: Der Westen habe sein Wort gebrochen und Russland, als es schwach war, über den Tisch gezogen.
Als Präsident Dmitrij Medwedew den SPIEGEL Anfang November in seiner Residenz vor den Toren Moskaus empfing, klagte er darüber, dass es nach dem Fall der Mauer nicht gelungen sei, »Russlands Platz in Europa neu zu definieren«. Was habe Russland erhalten? »Nichts von dem, was uns zugesichert worden ist: dass die Nato nicht endlos nach Osten erweitert wird und unsere Interessen stets berücksichtigt werden«.
Über die Frage, was Moskau 1990 tatsächlich versprochen wurde, tobt ein historischer Streit mit tiefgreifenden Konsequenzen für das künftige Verhältnis Russlands zum Westen. Aber was ist die Wahrheit?
Die Versionen der Akteure laufen quer durch alle Lager. Natürlich habe es eine Zusage gegeben, die Nato »keinen Daumen breit Richtung Osten auszuweiten«, sagt heute in Moskau Michail Gorbatschow, der damalige sowjetische Staatschef. Sein früherer Außenminister Eduard Schewardnadse im georgischen Tiflis hingegen erzählt, man habe vom Westen nichts Derartiges bekommen. Schon eine Auflösung des Warschauer Paktes, des östlichen Militärbündnisses, »lag außerhalb unserer Vorstellungswelt«.
James Baker, Schewardnadses US-Kollege von 1990, bestreitet schon seit Jahren eine Absprache; der damalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, hingegen sagt, Moskau habe eine »eindeutige Zusage« bekommen. Hans-Dietrich Genscher wiederum, 1990 Chef im Bonner Auswärtigen Amt, verneint genau das.
Der SPIEGEL hat mit zahlreichen Beteiligten gesprochen und vor allem britische und deutsche Dokumente gesichtet. Danach kann es keinen Zweifel geben, dass der Westen alles getan hat, den Sowjets den Eindruck zu vermitteln, eine Nato-Mitgliedschaft von Ländern wie Polen, Ungarn oder der CSSR sei ausgeschlossen.
So sprach Genscher am 10. Februar 1990 zwischen 16 und 18.30 Uhr mit Schewardnadse, und der bis vor kurzem geheim gehaltene deutsche Vermerk hält fest:
»BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.« Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: »Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.«
Schewardnadse antwortete, er glaube »allen Worten des BM«.
1990 war das Jahr der großen Verhandlungen. Washington, Moskau, London, Bonn, Paris, Warschau, Ost-Berlin und viele andere stritten um die deutsche Einheit, um eine umfassende europäische Abrüstung und eine neue Charta der KSZE, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Sowjets drängten darauf, möglichst alles schriftlich zu fixieren, selbst wenn es »nur« um das Schicksal sowjetischer Soldatenfriedhöfe in Ostdeutschland ging. Doch ausgerechnet zum Thema Ausdehnung der Nato nach Osteuropa findet sich in den zahlreichen Abkommen kein Wort.
Moskau könne keine Ansprüche erheben, argumentiert deshalb die westliche Seite. Schließlich habe man nichts unterschrieben.
Hart, aber auch fair?
Anfang 1990 war die Sowjetunion noch eine Weltmacht, deren Truppen an der Elbe standen, und in Ost-Berlin regierte der frühere Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow. Doch der Zusammenbruch des ostdeutschen Staates war abzusehen.
Die Bonner Verbündeten in Paris, London und Washington trieb die Frage um, ob ein geeintes Deutschland bereits Mitglied der Nato sein könne oder - wie schon zuvor in der Geschichte - eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West verfolgen werde.
Genscher wollte diese Unsicherheit beenden, und so bekannte er sich am 31. Januar in Tutzing in einer großen Rede zum Westen. Deshalb solle auch ein geeintes Deutschland der Allianz angehören.
Doch wie konnte man die sowjetische Führung für eine solche Lösung gewinnen? »Ich wollte ihnen über die Hürde helfen«, sagt Genscher heute. Also versprach der Bonner Außenminister in Tutzing, »eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran«, werde es nicht geben. Ostdeutschland sollte nicht in die mi-
litärischen Strukturen der Nato einbezogen werden und den Ländern Osteuropas die Tür zum Bündnis verschlossen bleiben.
Genscher erinnerte sich, was 1956 beim Ungarn-Aufstand passiert war. Teile der Aufständischen hatten verkündet, sie woll-
ten dem westlichen Bündnis beitreten, und Moskau damit den Vorwand für ein militärisches Eingreifen geliefert. Bonns Außenminister wollte Gorbatschow signalisieren, dass er eine solche Entwicklung im roten Imperium nicht zu fürchten brauchte. Der Westen wolle den Wandel mit der Sowjetunion gestalten - und nicht gegen sie.
Der Genscher-Plan, der in Tutzing verkündet wurde, war weder mit dem Kanzler noch mit den Verbündeten abgestimmt, um deren Unterstützung der Mann aus Halle in den folgenden Tagen warb.
Der Außenminister habe sich in jener Zeit mit »der Vorsicht eines Rieseninsekts bewegt, das mit seinen vielen Fühlern das Umfeld abtastet, bereit, zurückzuzucken, wenn es Widerstand spürt«, schrieb später Genschers Bürochef Frank Elbe.
US-Außenminister Baker, ein pragmatischer Texaner, »erwärmte sich sofort für den Vorschlag«. Am 2. Februar saßen die beiden Außenminister in Bakers Arbeitszimmer in Washington vor dem Kamin, legten die Jacketts ab und die Beine hoch und diskutierten den Lauf der Welt. Rasch herrschte Einigkeit. Keine Nato-Ausdehnung nach Osten. »Das war völlig klar«, berichtet Elbe.
Kurz darauf schloss sich der britische Außenminister Douglas Hurd dem deutsch-amerikanischen Konsens an. Genscher war gegenüber dem vergleichsweise deutschfreundlichen Briten ungewöhnlich offen, als sie sich am 6. Februar 1990 in Bonn trafen. Das zeigt ein bislang unbekanntes Dokument aus dem Auswärtigen Amt. In Ungarn standen die ersten freien Wahlen an, und der Bonner Außenminister erklärte, die Sowjetunion »brauche die Sicherheit, dass Ungarn bei einem Regierungswechsel nicht Teil des westlichen Bündnisses werde«. Das müsse man dem Kreml zusichern. Hurd stimmte zu.
Doch war an eine Zusage mit Ewigkeitswert gedacht? Offenbar nicht, denn als die beiden Kollegen über Polen sprachen, meinte Genscher den britischen Akten zufolge, falls Warschau eines Tages den Warschauer Pakt verlasse, müsse Moskau die Gewissheit haben, dass Polen »nicht am nächsten Tag der Nato beitritt«. Den Beitritt mit einem zeitlichen Abstand scheint Genscher hingegen nicht ausgeschlossen zu haben.
Es lag nahe, dass Genscher seine Ideen nun in Moskau präsentieren würde. Er war der dienstälteste westliche Außenminister, sein Verhältnis zu Gorbatschow und Schewardnadse ungewöhnlich gut, besser als das Helmut Kohls, und es war seine Initiative. Doch Baker wollte das Thema bei seiner nächsten Moskau-Reise lieber selbst ansprechen.
Unumstritten ist, was der US-Außenminister am 9. Februar 1990 im prachtvollen Katharinensaal des Kreml erklärte. Das Bündnis werde seinen Einflussbereich »nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen«, falls die Sowjets der Nato-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland zustimmten. Darüber werde man nachdenken, meinte Gorbatschow und fügte hinzu, ganz gewiss sei eine »Expansion der Nato-Zone inakzeptabel«.
Auch 20 Jahre später reagiert Gorbatschow noch empört, wenn er auf diese Episode angesprochen wird: »Man kann sich auf die amerikanischen Politiker nicht verlassen.« Denn Baker verbreitet inzwischen eine andere Lesart seines Auftritts. Er habe 1990 doch nur über Ostdeutschland gesprochen, das eben einen Sonderstatus im Bündnis erhalten sollte. Über mehr nicht.
Dabei hatte Genscher einen Tag später im Gespräch mit Schewardnadse seinerseits ausdrücklich auf Osteuropa Bezug genommen, schließlich entsprach es der Logik der westlichen Position, auch über Osteuropa zu reden.
Wenn man schon Ostdeutschland einen besonderen Status in der Nato zuerkennen wollte, um die sowjetische Führung nicht zu provozieren, dann musste die Zusage einer Nichterweiterung im Osten erst recht Länder wie Ungarn, Polen und die CSSR einschließen, die direkt an die Sowjetunion grenzten.
Als die westlichen Politiker einige Wochen später wieder unter sich waren, redeten sie denn auch Tacheles, wie aus einem jetzt zugänglich gewordenen Dokument des Auswärtigen Amtes hervorgeht. Es sehe so aus, »als wollten sich zentraleuropäische Staaten der Nato anschließen«, meinte Baker. Das sei eine Frage »an der wir gegenwärtig nicht rühren sollten«, antwortete Genscher. Baker stimmte zu.
Die Staatenlenker von damals sind heute ältere Herren, bisweilen fällt die Erinnerung schwer, und natürlich wollen sie alle in den Geschichtsbüchern gut dastehen. Gorbatschow will nicht derjenige sein, der es damals versäumte, das Tor zur Osterweiterung der Nato fest zu verschließen; Genscher und Baker wollen nicht den Vorwurf auf sich ziehen, sie hätten mit Moskau über die Köpfe von Polen, Ungarn oder Tschechen hinweggedealt. Und Schewardnadse sieht in der Erweiterung der Nato schon lange »nichts Schreckliches« mehr. Kein Wunder, denn sein Heimatland Georgien will Nato-Mitglied werden.
Damals war die Interessenlage eine andere. Bonn und Washington planten, die deutsche Einheit so schnell wie möglich voranzutreiben. Wenige Tage nach den Gesprächen im Kreml trafen Genscher, Baker und Schewardnadse erneut zusammen, dieses Mal gemeinsam und zudem noch mit allen Außenministern der Nato- und der Warschauer-Pakt-Staaten.
Bei der Abrüstungskonferenz im umgebauten ehemaligen Hauptbahnhof der kanadischen Hauptstadt Ottawa saßen und standen auf den Korridoren und in den Nebenzimmern die beiden deutschen Außenminister - für die DDR noch der Honecker-Mann Oskar Fischer - mit den Kollegen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und berieten in diversen Konstellationen den weiteren Lauf der deutschen Dinge. Am Ende stand fest: Die äußeren Aspekte der Einheit wie die Bündnisfrage oder die Größe der Bundeswehr sollten in sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geklärt werden.
Genscher sagt heute, alles Wichtige hätte in diesem Forum thematisiert werden müssen, und dort sei über einen Ausschluss einer Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer nie gesprochen worden, was die Beteiligten durchweg bestätigen.
Und Genschers Äußerungen gegenüber Schewardnadse am 10. Februar 1990?
Das sei »ein Abtasten« vor den eigentlichen Verhandlungen gewesen, um herauszufinden, wie Moskau in der Bündnisfrage stand und ob es Spielräume gab. Mehr nicht.
Das ist die offizielle Position. Aber nicht die einzige.
Ein Diplomat des deutschen Außenamts sagt, natürlich habe es einen Konsens beider Seiten gegeben. In der Tat: Die Sowjets hätten sich wohl kaum auf die Zweiplus-Vier-Verhandlungen eingelassen, wenn sie gewusst hätten, dass die Nato später Polen, Ungarn und andere Länder Osteuropas aufnehmen würde.
Auch so waren die Verhandlungen mit Gorbatschow schwierig; immer wieder beteuerten westliche Politiker, man werde aus der Lage »keine einseitigen Vorteile ziehen« (US-Präsident George Bush), und es werde »keine Verschiebung des Kräfteverhältnisses« zwischen Ost und West geben (Genscher). Zumindest auf den Geist der Absprachen von 1990 könnte sich Russland heute mit einigem Recht berufen.
Ende Mai 1990 stimmte Gorbatschow schließlich der Bündnismitgliedschaft eines geeinten Deutschlands zu. Aber warum ließen sich Gorbatschow und Schewardnadse die Zusagen nicht schriftlich geben, als sie noch alle Trümpfe in der Hand hielten? Antwort des einst mächtigen Generalsekretärs: »Anfang 1990 bestand noch der Warschauer Pakt. Allein die Vorstellung, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd.«
Manche westliche Spitzenpolitiker gewannen den Eindruck, der Kreml-Chef und sein Außenminister verweigerten sich der Realität und wollten den Niedergang der Sowjetunion als Großmacht »nicht wahrhaben« (Baker).
Auf der anderen Seite gehörte das Baltikum noch zur Sowjetunion; eine Nato-Mitgliedschaft schien Lichtjahre entfernt. Und in manchen Teilen Osteuropas waren friedensbewegte Dissidenten an der Macht wie Václav Havel, der zunächst nicht nur den Warschauer Pakt, sondern am liebsten auch die Nato aufgelöst hätte.
Keine osteuropäische Regierung strebte in jener Frühphase in die Nato, und das westliche Bündnis dachte nicht daran, neue Mitglieder aufzunehmen. Zu teuer, eine unnötige Provokation Moskaus, und sollten im Fall des Falles französische, italienische oder deutsche Soldaten ihr Leben für Polen und Ungarn opfern?
Doch dann zerfiel 1991 die Sowjetunion; der Bosnien-Krieg mit seinen hunderttausend Toten ließ überall die Angst vor einer Balkanisierung Osteuropas ansteigen. Und in den USA suchte ab 1993 der neue Präsident Bill Clinton nach einer neuen Aufgabe für das westliche Bündnis.
Auf einmal wollten alle in die Nato, und bald wollte die Nato auch alle aufnehmen.
Der Streit um die Geschichte konnte beginnen.
https://www.spiegel.de/politik/absur...0-000067871653
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Ergänzend dazu ein aktuellerer Artikel des Cicero vom 27.12.2021
Zitat:
Von Russlandverstehern, kalten Kriegern und Realpolitik
Die Ost-Erweiterung des westlichen Verteidigungsbündnisses traf nie auf russische Gegenliebe. Dennoch wurde sie zu Beginn von gewissen Rücksichtnahmen flankiert. Damit ist Schluss, seit Außenpolitik „wertebasiert“ sein soll, wie es auch die neue Bundesregierung propagiert. Doch ein Verkennen russischer Interessen trägt zur Eskalation bei - dabei ist es völlig egal, wer moralisch auf der richtigen Seite steht.
Die Nato-Erweiterung steht aktuell im Mittelpunkt der Auseinandersetzung der Nato mit Russland. Seit 1990 ist das Bündnis um 14 Staaten gewachsen und hat sich damit weit nach Osten in den Bereich des ehemaligen Warschauer Paktes und der ehemaligen Sowjetunion ausgedehnt. Ein Blick auf Ursprünge und Geschichte des Erweiterungsprozesses zeigt, dass sich das Verhältnis zu Russland geändert hat.
Schon früh nach dem Ende des Kalten Kriegs drängten viele Staaten Mittelosteuropas und einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion in das Bündnis. Sie suchten Sicherheit vor Russland und sahen die Bündnismitgliedschaft als Mittel zur Sicherung der neu gewonnenen Freiheit. Russland seinerseits lehnte während der chaotischen Jelzin-Zeit die Nato-Erweiterung ab, da es die Nato als gegen sich gerichtetes Verteidigungsbündnis sah. Die russische Propagierung der Abschaffung der Nato und ihres Ersatzes durch die nach innen gerichtete OSZE, die alle Mitglieder – einschließlich Russlands – gleichberechtigt umfasst, blieb ohne großen Widerhall im Westen.
Außenpolitische Realisten gegen die Erweiterung
1997 bot die Nato in einem ersten Schritt Polen, Tschechien und Ungarn erstmals Beitrittsverhandlungen an. Gegen eine Nato-Erweiterung bezogen dagegen schon damals eine Reihe prominenter amerikanischer Politiker sowie Sicherheits- und Militärexperten Position – darunter so integre, einer Beschwichtigung gegenüber Russland nicht verdächtige Persönlichkeiten wie der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara, Senator Sam Nunn und der langjährige Abrüstungsverhandler Paul Nitze. Nahezu prophetisch wirkt heute die Einschätzung des amerikanischen Diplomaten und Historikers George F. Kennan, der als Urheber der von den USA seit 1947 während des Kalten Kriegs verfolgten Containment-Politik „zur Eindämmung des sowjetischen Imperialismus“ gilt. Er bezeichnete 1997 die Nato-Erweiterung als „verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ und führte hierzu begründend aus, dass „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“ Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund gerade auch der von der neuen Bundesregierung verfolgten wertebasierten Außenpolitik von Interesse, zählte sich Kennan doch zur realistischen Denkschule in der Politikwissenschaft, die auf das Überleben des eigenen Staates auch durch Bereitstellung notwendiger militärischer Machtmittel setzte. Diese Denkschule grenzt sich bewusst von einem optimistisch geprägten Idealismus ab.
Die seit 1999 bis heute erfolgte Nato-Osterweiterung traf stets auf russische Ablehnung. Sie stellt jedoch jetzt ein Faktum dar, das letztlich von Russland nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wird. Russland dürfte nicht zuletzt aufgrund der 2016 erfolgten demonstrativen Verlegung von Nato-Truppen nach Polen und in die baltischen Staaten („Enhanced Forward Presence“) überzeugt sein, dass das westliche Bündnis ihrer militärischen Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nato-Vertrages verlässlich nachkommen würde, eine Revision der europäischen Sicherheitsordnung insoweit keine Chance hätte. Dies gilt, selbst wenn Präsident Putin noch vor nicht allzu langer Zeit den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat.
George W. Bush macht Schluss mit Rücksichtnahme
Nach jüngeren Forschungen soll es keine formellen Zusagen gegenüber Russland zur Erweiterung oder Begrenzung des Einflussbereiches der Nato gegeben haben. Dennoch waren die Nato-Staaten zunächst bereit, den von Russland reklamierten Sicherheitsbedenken zumindest teilweise Rechnung zu tragen. Hatten Deutschland und die Westmächte im Zusammenhang mit der deutschen Einheit im 2+4-Vertrag 1990 schon Beschränkungen wie eine vertraglich zugesicherte Obergrenze für den Umfang der Bundeswehr und das Verbot der Stationierung von ausländischen Streitkräften und Kernwaffenträgern auf dem Territorium der ehemaligen DDR akzeptiert, so hatte die Nato 1997 angesichts der Planungen zur Nato-Osterweiterung in der Nato-Russland-Grundakte Zurückhaltungsverpflichtungen wie die Nichtstationierung von „substantiellen Kampftruppen“ und Kernwaffen in den Nato-Beitrittsstaaten übernommen.
Von derartigen Rücksichtnahmen auf reklamierte Sicherheitsbedürfnisse oder auch nur „Befindlichkeiten“ Russlands ist spätestens seit dem Amtsantritt des US-Präsidenten George W. Bush 2001 keine Rede mehr. Dieser setzte letztlich durch die einseitige Kündigung des für die strategische Stabilität mit Russland zentralen ABM-Vertrags vor 20 Jahren, am 13. Dezember 2001, dem Nimbus der sicherheitspolitischen „Gleichrangigkeit“ Russlands ein Ende. Sicherheit sollte durch umfassende militärische Überlegenheit der USA und nicht länger durch ein Gleichgewicht der Kräfte oder die Freiheit einschränkende Rüstungskontrollvereinbarungen gewährleistet werden. Russland galt nurmehr als Regionalmacht, eine Bedrohung durch die Nato wurde negiert. Dies forderte allerdings Gegenreaktionen Russlands heraus, das sich weiterhin als Gegner der Nato sieht und durch Stärkung seiner konventionellen und nuklearen Streitkräfte wie durch eine aggressive Außenpolitik als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA Anerkennung sucht. Nach dem in den letzten Jahren feststellbaren militärischen Erstarken Russlands erklärte Präsident Putin die weitere Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien für nicht hinnehmbar, damit würden rote Linien Russlands klar überschritten.
Berücksichtigung von Russlands Sicherheitsinteressen abgelehnt
Dennoch wird gerade heute von den USA der Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens, den die USA bereits 2008 gegen deutsche Widerstände auf die Nato-Agenda gesetzt haben, aggressiv propagiert und forciert. Von Russland erhobene Ansprüche auf Wahrung von Einflusssphären – sei es aus Sicherheitsgründen oder zur Untermauerung seines Großmachtstatus – werden als nicht legitim und unbegründet verworfen. Ebenfalls ignoriert wird die Tatsache, dass Russland zur Wahrung seines Einflusses gegenüber der Ukraine 2014 (wie auch bereits 2008 gegenüber Georgien) bereit war, militärische Mittel einzusetzen. Zuletzt vertritt die Nato in einer Erklärung vom 16. Dezember 2021 kategorisch den Standpunkt, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine lediglich eine Angelegenheit zwischen der Ukraine und den 30 Nato-Mitgliedstaaten sei. Damit wird implizit eine Berücksichtigung von Russland geltend gemachter Ansprüche und Sicherheitsinteressen abgelehnt.
Russland wird heute als aggressive, auf Revanche sinnende Macht gesehen, deren zunehmend autoritäres und repressives Regime keine Sympathie und kein Verständnis verdient, zumal erklärt wird, dass es keinerlei Befürchtung über eine weitere Ausdehnung einer allein friedliebenden Nato zu hegen braucht. Es stimmt: Die aktuelle Drohgebärde des Aufmarsches russischer Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine ist nicht akzeptabel. Dennoch ist es wichtig, sich die Geschichte und die russischen Befindlichkeiten zur Nato-Osterweiterung zu vergegenwärtigen.
Bedauerlicherweise steht der Begriff „Russlandversteher“ heute in Verruf. Dabei schützt doch die Bereitschaft, sich in die Lage des Gegenübers oder Gegners zu versetzen, davor, Fehleinschätzungen zu erliegen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten und -erfordernisse falsch einzuschätzen. Das Verstehen des Gegenübers bedeutet keineswegs, dass man der Haltung des Gegenübers Verständnis entgegenbringt oder diese billigt. Empörung und moralische Entrüstung über Russland scheinen heute jedoch leider den Blick für Tatsachen zu trüben; Vorgeschichten und Kausalketten wie auch die eigenen realpolitisch definierten Interessen werden ebenso verdrängt wie die realen Eskalationsgefahren.
Geist der Konfrontation
Zwar ist richtig, dass die Nato kein formelles Einspruchsrecht gegen eine Osterweiterung akzeptieren kann. Sie sollte jedoch zumindest zum jetzigen Zeitpunkt im Interesse europäischer Stabilität und der Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung, auf die es Russland im Zweifel ankommen lassen würde, davon absehen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Es spricht realpolitisch alles dafür, den Verhandlungsweg zu beschreiten, um eine Lösung zu erreichen, die möglicherweise auf eine Art neutralen Status für die Ukraine hinauslaufen und die Einbindung Russlands in eine neue kollektive Sicherheitsarchitektur sowie die Wiederbelebung europäischer Rüstungskontrolle zum Ziel haben könnte.
Die aktuellen Äußerungen vieler Nato-Regierungen wie auch westlicher Beobachter sind jedoch unverändert von einem auf Konfrontation setzenden Geist und der Absicht geprägt, durch wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen Russland in die Knie zu zwingen. Ein Eingehen auf Verhandlungen mit Russland oder der Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine in die Nato werden als Appeasement gegeißelt. Den „kalten Kriegern“, die diese Linie verfolgen, sollte die Gefährlichkeit aber auch die voraussichtliche Erfolglosigkeit einer derart kompromisslosen Haltung bewusst sein; die als demütigend empfundene Androhung oder Verhängung von Sanktionen in aller Öffentlichkeit wird Russland nicht zum Nachgeben bewegen. Zudem sieht sich das auch militärisch wiedererstarkte Russland heute in einer stärkeren Position als noch bei Umsetzung der ersten Nato-Erweiterungen.
Selbst wenn eine Deeskalation gelingt: Das sicherheitspolitische Umfeld für Deutschland und Europa ist rauer geworden. Zur Wahrung unserer äußeren Sicherheit ist es erforderlich, dass die eklatanten Ausrüstungsmängel und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr beseitigt werden; zudem ist es ein politisches Gebot der Wahrung des Einflusses im Bündnis, dass der vereinbarte Zielwert von einem Anteil von 2% des Verteidigungshaushaltes am Bruttoinlandsprodukt schnellstmöglich erreicht wird. Hinzu kommt, dass es auf europäischer Ebene unumgänglich sein wird, die Verteidigungsanstrengungen zu bündeln, um deren Wirksamkeit zu erhöhen und um angesichts der erwartbaren Schwächung des transatlantischen Zusammenhalts im Falle einer Wiederwahl von Trump oder der Wahl eines seiner republikanischen Adepten zu gewährleisten, dass sich die EU im „Konzert der Großmächte“ behaupten kann.
Realitäten ignoriert
Diese Aufgaben werden bedauerlicherweise auch von denjenigen, die sich jetzt gegenüber Russland als „kalte Krieger“ gerieren, kaum thematisiert. Sie liegen jedoch in der Konsequenz einer stimmigen deutschen und europäischen Sicherheitspolitik. Stattdessen erlaubt sich Deutschland eine für außenstehende Beobachter abstrus-weltvergessen wirkende Debatte darüber, ob für die Streitkräfte zu beschaffende Drohnen bewaffnet sein sollen oder nicht. Einmal mehr werden hier die Realitäten ignoriert, hat doch schon der Afghanistaneinsatz die potentielle Bedeutung von bewaffneten Drohnen für den Schutz eingesetzter deutscher Soldaten gezeigt; zudem sollte auch der jüngste Waffengang zwischen Aserbaidschan und Armenien die Rolle von Drohnen in der modernen Kriegsführung verdeutlicht haben.
Die in den deutschen Medien heute vielfach konstruierte Gegensätzlichkeit zwischen „Russlandverstehern“ und „kalten Kriegern“ ist verfehlt. Es geht vielmehr um die nüchterne Anerkennung der Realitäten und die Wahrung unserer Kerninteressen, unter denen die Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland und die sicherheitspolitische Einbindung Russlands als prioritär gelten müssen. Zu hoffen ist, dass die moralische Entrüstung über Russland und die von der neuen Bundesregierung propagierte „Wertebasierung“ der Außenpolitik dem nicht entgegenstehen.
Schon bei Überwindung des Kalten Kriegs hat sich für die Nato die seit 1967 geltende Doppelstrategie des sogenannten Harmel-Berichts als politisch leitend und richtig erwiesen. Diese Doppelstrategie sieht die Bereitschaft zu Dialog, Zusammenarbeit und Entspannung auf der Grundlage und abhängig von der Gewährleistung gesicherter Verteidigungsfähigkeit vor. Sie stellt im Kern einen realpolitischen Ansatz dar, den Otto von Bismarck auf die folgende, heute unverändert gültige Formel gebracht hat: „In der auswärtigen Politik sind nicht Gefühle, sondern Interessen und Gegenseitigkeit zur Richtschnur zu nehmen.“
https://www.cicero.de/aussenpolitik/...nd-realpolitik
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Geändert von DokuQuelle (27.01.22 um 08:52 Uhr)
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