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Ungelesen 09.10.11, 21:14   #27
dissection
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Zitat:
Zitat von BullzEye09 Beitrag anzeigen
Interessanter Beitrag, wenn auch teilweise seeehr langatmig^^

Prinzipiell kann ich mich mit deiner Definition von Existenz und Realität gut anfreunden, bei einem Punkt allerdings bin ich anderer Meinung:
Du deutest die Schizophrenie einfach als eine andere Realität, als eine für uns abnormale Wahrnehmung.
Jedoch schreibst du vorher, dass die individuelle Realität verschiedener Menschen eine voneinander abweichende Wahrnehmung von "der Existenz" ist.
Existenz ist laut deinen Ausführungen aber eindeutig und unbestreitbar, sozusagen für jeden erst einmal gleich (bevor es durch die verschiedenen Geister zu unterschiedlichen Realitäten wird).

Menschen mit Schizophrenie allerdings haben eine Realität, die nicht oder nur wenig auf der Existenz basiert, also keine einfache individuelle Deutung von existierenden Dingen ist.
Du nennst dafür schon gute Beispiele: Die Wahrnehmung von Stimmen beispielsweise ist meiner Meinung nach keine "normale" Realität.

Ich würde diese psychische Abnormalität daher nicht einfach als andere Realität bezeichnen, sondern wirklich als Krankheit.

Aber vielleicht bin ich dafür auch einfach viel zu viel Naturwissenschaftler, als dass ich solche Dinge objektiv bewerten könnte^^

Ja, ich verstehe was du meinst. Ich bin übrigens selbst auch Naturwissenschaftler, genauer Biologe u.a. mit Spezialisierungsfach Neurobiologie.

Ich vertrete die oben beschriebenen Ansichten deshalb, weil mir bewusst ist, wieviel der bewussten Wahrnehmung zuvor einen aktiven Bearbeitungsprozess durch das Gehirn erfahren musste. Quasi jegliche Bedeutung die in einer Summe an Reizen steckt ist Resultat eines aktiven Verrechnungsprozesses des Gehirns. Es gibt Menschen mit einer Störung für die jedes Gesicht gleich aussieht - die niemanden am Gesicht wiedererkennen können. Es gibt Menschen mit Gehirnverletzungen die zwar intakte Sätze sprechen können, für die umgekehrt gehörte Sätze aber keinerlei Sinn ergeben. Sie hören vollkommen normal, verstehen aber nicht den Inhalt der Sprache. All das was wir so als selbtsverständliche Fakten hinnehmen ist in Wirklichkeit bereits eine subjektive Interpretation von externen Reizen, keine simple Reproduktion.

Wir sind nicht wertungsfreie Beobachter von Informationen. Unser Gehirn erschafft eine künstliche Interpretation aus Informationen die in sich selbst durch die Bauweise des Gehirn bedingt überhaupt erst einen Informationgehalt besitzen.

Sicherlich ist die Schizophrenie eine Krankheit, eine Abnormalität. Ich habe das Beispiel angeführt um aufzuzeigen, dass diese Menschen eine vollkommen andere Realität erleben als der Durchschnitt und es ihnen nicht bewusst wird. Letztendlich gibt es keinen Unterschied auf Ebene ihrer Konstruktion von Wahrnehmung - am Ende steht die elektrische Aktivität von Nervenzellen und die ist mit unserer identisch. Bei uns sind lediglich die Bedingungen anders, die zu dieser Aktivität führen können. Deswegen sind Schizophrene schlecht zugänglich für logische Argumente - sie sind genauso beschränkt auf ihre Empfindung von Realität wie wir auf unsere. Für sie besitzt diese abstruse Realität denselben Wahrheitsgehalt wie unsere weil die Aktivität im Gehirn, also ihre Wahrnehmung exakt dieselbe wäre, wenn da wirklich Luftdruckänderungen Ursache der Stimmen wären. Das fällt ihnen ja nichtmal als etwas Außergewöhnliches auf, sie denken das sei normal bis ihnen ein Arzt etwas anderes erzählt.

Das stellt ein Extrembeispiel für eine veränderte Reizinterpretation im Gehirn dar - sollte aber bewusst machen, dass die Wahrnehmung die wir als "Realität" empfinden keineswegs ein bloßes passives Abbilden von Informationen, sondern eine aktive Interpretation von Nervenimpulsen darstellt. Diese Interpretation ist nicht felsenfest, sie schwankt und das geschieht unbewusst ohne dass wir eine Änderung feststellen könnten. Unsere Interpretation von Mimik ist zum Beispiel stimmungsabhängig - Gesichter verändern sich quasi je nachdem wie wir drauf sind.

Ich glaube auch es ist wirklich schwer nachzuvollziehen was ich meine. Man ist an seine Realität gefesselt, deswegen kann man nicht fühlen, dass sie die ganze Zeit konstruiert ist.

In meinem Fall war ein Erlebnis mit halluzinogenen Pilzen sehr lehrreich. Damit ist es möglich, die erlebte Realität sehr zu verzerren. Im Prinzip versetzt es in einen schizophreniartigen Zustand. Der entscheidende Eindruck ist jedoch das verbleibende Gefühl einer greifbaren Realität. Du hast etwas Vergleichbares zuvor nir erlebt, du bist dir bewusst dass es auf den Einfluss der Droge zurückzuführen ist - du fühlst dich aber nicht so.
Das ist eine ganz andere Dimension als zB ein Alkoholrausch. Der betäubt nur, er verleiht ein umfassendes Gefühl der Beeinflussung aller Wahrnehmung.
Solche psychoaktiven Drogen hingegen lassen dein Realitätsempfinden unangetastet. Vorher ist man sich nichtmal bewusst, dass man soetwas überhaupt hat und dass es etwas anderes ist als Verstand. Man fühlt sich wie derselbe Mensch in einer komplett anderen, sehr merkwürdigen Welt die rein vom Verstand her nicht real sein kann, sich jedoch exakt so anfühlt.

Mit dieser Erfahrung bricht die Gewohnheit zusammen, die Wahrnehmung von Realität immer als representative Wiedergabe von Fakten zu verstehen. Du glaubst dein Gefühl für Realität ist eine perfekte Abbildung der Wirklichkeit - es ist aber ein vom Gehirn erzeugter Eindruck.

Ich durfte auch den Verlust dieses Gefühls erfahren - ein Abhandensein der Identifikation mit dem Wahrgenommenen. Stell dir vor du betrachtest deine Wahrnehmung als dritter in einem Film aus der Ich-Perspektive. Nur mit dem Unterschied, dass die Wahrnehmung exakt gleich ist, kein Bildschirm drumherum, es bleiben deine Augen, deine Bewegungen. Du siehst dasselbe. Es verliert nur seinen Realitätscharakter, das Gefühl, dass die Wahrnehmung wirklich ein Teil von deiner Person ist. Es fühlt sich exakt genauso unwirklich an als würdest du einen Film betrachten, sieht lediglich nicht so aus und du hast immer noch die volle Kontrolle. Das ist sehr merkwürdig sage ich dir...

Diese Extremfälle rücken das Ganze nur in einen Bereich des bewusst greifbaren. Es bedarf einen sehr dramatischen Bruch mit dem logischen Verstand, damit das Gefühl der Realität anfängt zu schwanken und als solche fühlbar wird. Die Basis des Ganzen, die Aktivität der Nervenzellen, die Ausschüttung der Neurotransmitter ist eben nicht so exakt festgelegt wie man meinen könnte. Sie ist ein naturgemäß fluktuierendes Phänomen - und in direkter Konsequenz auch die resultierende Wahrnehmung. Man kann daraus im Endeffekt nur den Schluss ziehen, dass verschiedene Menschen zwar ähnliche, nie jedoch gleiche Realitäten haben werden. Und so sucht man sich ähnliche Menschen um sich gegenseitig Rückhalt und Rechtfertigung für die "Richtigkeit" der Realität zu geben.
Was passiert wenn im Alltag ein drastischer Bruch mit diesem Gefühl der "Richtigkeit" geschieht? Frag mal Opfer einer Geiselnahme oder andere schockbedingte Psychotraumapatienten. Sie werden dir erzählen, dass momentan alles unwirklich, wie in einem Film wirkt.

Realitätsgefühl ist ein Schutzmechanismus, eine unbewusst rationalisierte Rechtfertigung für unser Handeln. Wenn wir uns daran nicht mehr festhalten können werden wir handlungsunfähig, apathisch. Die "Wahrheit" bleibt eine Illusion unserer Psyche - eine notwendige Illusion jedoch.
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