[Draalz]

Seltsame Retro-Sehnsucht

Früher war mehr Stress

Eine Kolumne von [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]

Die jungen Leute von heute würden bei einer Zeitreise lieber in die Vergangenheit reisen als in die Zukunft – so haben sie es in einer Umfrage angegeben. Ob sie sich das gut überlegt haben?

24.04.2024, 12.01 Uhr


rabant in Leuna 1996: Die Zukunft hat offenbar ein »Imageproblem« Foto: Jochen Eckel / IMAGO

Die Hobbits leben ein ruhiges Leben. Die Bewohner des Auenlandes sind häuslich und zufrieden, friedfertig und intellektuell genügsam. Sie trinken ihr Bier gerne aus mittelgroßen Humpen, und tragen bunte Kleidung. Ihre Umwelt ist intakt. Von besonderen Herausforderungen halten sich die Helden des Romans »Der Herr der Ringe« von J.R.R. Tolkien nach Möglichkeit fern. Das Auenland ist ihr Sehnsuchts- und Bestimmungsort.

Stellen sich so die jungen Erwachsenen von heute das Leben im vergangenen Jahrhundert vor? Jedenfalls haben sie Sehnsucht danach. Vom Meinungsforschungsinstitut Civey befragt, ob sie bei einer Zeitreise lieber in die Zukunft, oder aber in die Vergangenheit reisen würden, entschied sich fast die Hälfte der 18- bis 29-jährigen für die Vergangenheit. Civey-Chefin Janina Mütze kommentierte das im »Handelsblatt«: Die Zukunft habe ein »Imageproblem«, wenn sich die Jungen in eine Welt zurücksehen, in der sie selbst nie waren.

Klar. Besser wäre, die jungen Leute würden beherzt nach dem Steuerrad ihres Lebens greifen und die Zukunft anpacken. Ihnen sollte auch zu denken geben, dass sich diejenigen, die die Vergangenheit erlebt haben, eher nicht dahin zurückwünschen. Nur ein Drittel der über 65jährigen würde nach hinten reisen. Doch lernen könnten die Jungen, wenn sie sich etwa für 40 Jahre nach hinten bewegten. Bei einer Zeitreise in das beispielhaft gewählte Jahr 1984 würde sich den sensiblen jungen Menschen von heute ein Bild des Schreckens offenbaren.

Die Umweltbelastung erreicht in diesem Jahr ihren Höhepunkt, das Waldsterben grassiert. Jeder dritte Baum in Westdeutschland gilt als schwer geschädigt, in der [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] halten sie ihre Umweltdaten seit zwei Jahren streng unter Verschluss. Mit bloßem Auge kann aber jeder sehen, dass im Erzgebirge praktisch kein gesunder Baum mehr steht. Man atmet im Chemiedreieck Buna-[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]-Bitterfeld lieber flach, wenn kein Wind weht. In dieser Zeit in die Elbe zu fallen, kommt einem Vollbad in Schwerchemikalien gleich. Fische schwimmen da jedenfalls nicht mehr.

Die Zeitreisenden würden sich wundern

Zum Jahreswechsel 1984/85 baut sich auch noch eine ekelhafte Wintersmog-Glocke auf. Im Januar 1985 werden die Schulen in vielen Städten des Ruhrgebiets geschlossen, Autos dürfen nicht mehr fahren, die Industrie muss die Produktion herunterfahren. Der Katalysator für Verbrennungsmotoren, Filteranlangen für Fabrikschornsteine, Schwefelabscheider in Braun- und Steinkohlekraftwerken werden erst später vorgeschrieben.

Die Zeitreisenden würden sich auch schwer wundern, wie viele von ihnen es auf einmal gibt. Die Babyboomer wären nicht mehr ihre Eltern, sondern ihre Zeitgenossen. Sie drücken sich mit Ihnen zu hunderttausenden in den Universitäten herum, sie säßen auf dem Boden überfüllter Hörsäle und müssten in den Seminarbibliotheken Lehrbücher verstecken, damit sie noch eines finden, wenn die anderen auch suchen.

Noch enger ist es für Schulabgänger ohne Abitur. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist im Jahr 1984 verheerend. Für 600.00 überschüssige Jugendliche gibt es trotz Joboffensive immer noch keinen Ausbildungsplatz. Jeder fünfte Arbeitslose ist in dieser Zeit zwischen 20 und 25 Jahre alt.

Wer bei seiner Zeitreise in der DDR landet, hat zwar kein Arbeitslosenproblem. Dafür darf man nicht lernen, was er oder sie will. Ein planwirtschaftliches System teilt ein, wer überhaupt zur Hochschulreife kommt. Durchschnittlich drei Schüler pro Klasse wechseln von der Polytechnischen Oberschule in die Erweiterte Oberschule. Und wer von den Abiturienten dann überhaupt, und welches Fach studieren darf, ist noch lange nicht ausgemacht. Es hilft, sich für drei Jahre bei der Armee zu verpflichten.

Schwule, Lesben und alle, die sich sexuell nirgends einordnen lassen wollen, sollten besser in der Gegenwart bleiben. Homosexuelle haben in den achtziger Jahren weder in West- noch in Ostdeutschland etwas verloren – jedenfalls dann nicht, wenn sie von einem geordneten Leben träumen. Zwar ist Homosexualität in der DDR seit 1957 nicht mehr strafbar, Westdeutschland zieht Ende der sechziger Jahre nach. Doch seitdem in den [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] und bald darauf auch in Westdeutschland mehr und mehr junge Männer an HIV erkranken und sterben, schlägt das Klima radikal um. Ein junger [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]-Mann namens [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] wird schon bald von Lagern für HIV-Infizierte und Zwangstests fabulieren, der bayerische Schulminister denkt laut über Umerziehung nach.

Und die Politik? [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] ist Kanzler, aber noch lange nicht der Kanzler der Einheit. Den meisten jungen Leuten ist der behäbige Riese aus Rheinland-Pfalz vor allem peinlich. Über die große Geste – der Handschlag zwischen Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten Francois Mitterand an den Gräbern der Gefallenen des ersten Weltkriegs in Verdun – machten sich damals viele lustig. Die Geschichte ist mit Kohl gnädiger als die Gegenwart des Jahres 1984.

[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] in der DDR ist inzwischen so abhängig von Krediten und Devisen aus dem Westen, dass er immer mehr Leuten die Reise in die [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] erlauben muss. Die Milliardenkredite aus Bonn (das kleine Gemeinwesen am Rhein ist damals die Hauptstadt) retten zwar die Außenhandelsbilanz der DDR, aber sie destabilisieren das Land unübersehbar: Je mehr DDR-Bürger Westverwandte besuchen und erfahren, wie das Leben auf der anderen Seite der Mauer ist, desto mehr entscheiden sich gegen das eigene Land. Die erste Welle von Botschaftsflüchtlingen versucht die Ausreise zu erzwingen, am Ende des Jahres haben 40.000 Bürger die DDR Richtung Westdeutschland verlassen.

Natürlich war Mitte der achtziger Jahre nicht alles schlecht in Deutschland. Vieles von dem, was damals ramponiert war, ist heute repariert. Der Soziologe [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] nennt den entscheidenden Unterschied zwischen den jungen Erwachsenen damals und heute: Man habe bis weit ins 21. Jahrhundert hinein das Gefühl geteilt, das Schlimmste liege hinter dem Land und seinen Leuten, und mindestens die nächste Generation werde es besser haben. Diese Sicherheit sei nun gewichen.

Sie wollen immer noch in die Vergangenheit reisen? Überlegen Sie es sich. Sie würden zwar mit dem Wissen von heute sehen, wie groß der Fortschritt in den vergangenen vierzig Jahren war. Doch wenn sie in die Zukunft reisen, zurückkämen und wüssten, was zu tun ist, wäre das klüger. Dann könnten sie anfangen.

[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
Eine amüsante und interessante Beleuchtung. Ich habe in dieser Zeit viel Spaß gehabt. Aber Geschäfte öffneten um 8 Uhr, schlossen um 13 Uhr und öffneten dann wieder um 15 Uhr bis 18 Uhr. Musik hörte man von Venylplatten, die man mit Samthandschuhen anfassen musste, damit sie nicht verkratzen.
Ich persönlich möchte nicht in diese Zeit zurück.

[mati108]

Für mich gab es viel Gutes und auch viel Schlechtes. Ich denke das ist doch so in jeder Zeitepoche. Heute zurück möchte ich aber auch nicht, da gefällt es mir doch hier besser, man hat einfach viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten.

[MotherFocker]

Früher war immer alles besser, sogar die Zukunft (Zitat vom ollen Karl Valentin ^^)

Nur..., wenn ich heute auf demselben Wissensstand wie damals wäre (egal ob intelligent oder strunzdoof), dann kann ich mir die Retroflucht gut vorstellen.
Problem dabei ist, dass den damaligen Ärger, die Unbeschwertheite und Vorteile, heute nicht mehr zu schätzen wüsste.

Also dann doch lieber ab und zu sich in Retrogedanken verlieren, als gänzlich das hier und heute zu verdrängen Ich lebte und lebe gerne in jeweiligen Epochen meines Lebens

btw Ladenschluss:
Die Geschäfte waren ca. von 07:30 bis 18:30 (inkl. Mittagspause) geöffnet. Mittwoch Nachmittags meist zu.
Wir haben unsere Einkäufe trotzdem erledigen können. Deswegen gehe ich heute grundsätzlich nach 19 Uhr nicht zum Einkaufen.
Aber so ist halt der Wandel der Zeit.

[Uwe Farz]

Zitat von Draalz

Musik hörte man von Venylplatten, die man mit Samthandschuhen anfassen musste, damit sie nicht verkratzen.

Ein Erinnerungsfoto, betreffend meinen Lieblingsladen:


Da habe ich viel Geld rein getragen.
Die 70er waren in meiner persönlichen Retrospektive eine tolle Zeit.
Besser wirds vermutlich nicht mehr.

[gerhardal]

... bin ü. 65, Retro von damals brauche ich nicht. Keinen analogen Fotoapparat .., habe ganze Schränke voll mit Dias, mit einer für heute fürchterlichen Qualität.
Urlaub ohne Gps, das war früher normal. Erinnere mich an einen Urlaub in Florida, ich der Fahrer, meine Frau hatte die Landkarte... nachdem wir nach 2 Stunden suchen, das 4. mal am gleichen Kreisverkehr heraus kamen, gabe es einen fürchterlichen Streit ...
Venyl-Schallplatten habe ich noch haufenweise ... hört keine Sau mehr an ...
Nö, ich mag die Gegenwart, ist für mein Alter bequemer..

[mati108]

Zitat von Uwe Farz

Da habe ich viel Geld rein getragen.
Die 70er waren in meiner persönlichen Retrospektive eine tolle Zeit.

Die "Lerche" war ein toller Laden, leider gibt es Die nicht mehr, habe ich gerade herausgefunden.
Aber dafür musste ich damals lange mit dem Bus fahren, bis ich mein Geld dahin tragen konnte.
Es es war dann halt immer ein Eventtag, und man konnte es gar nicht erwarten, bis man wieder Zuhause war, um die Scheibe zu anzuhören.
Aber man war ja auch viel jünger und in in einem ganz anderen Lebensalter. Heute wäre das für mich sicherlich auch kein Eventtag mehr.

[Caplan]

Ich hab mal nach der Schreibenden geschaut.
Ich dachte erst sie schwadroniert nur um des tendenziell negativen Berichtes wegen, aber sie hat die Zeit anscheinend miterlebt Kraft ihres Jahrgangs 1962.

Gut, jeder wird seine Perspektive dazu haben.
Mir ging es nicht schlecht, meinem Umfeld auch nicht,von daher gibts auch nichts zu reuen.
Geld war auch noch was wert.
Und die anderen Dinge wurden einfach geloest und nicht nur debattiert.

[csesraven]

Kein Stress != Bequemlichkeit

Hier werden 2 Punkte komplett miteinander vermischt. Ich denke heute ist vieles angenehmer - dafür ist die Wahrnehmung viel mehr gefordert. Informationen kommen aus ganz verschiedenen Bereichen die es früher alle nicht gab. Damals war ein Wechsel der Arbeitsstelle nicht üblich, heute wird man teilweise schief angesehen sollte das passieren.

[Caplan]

Angenehmer...
Staendiger Ausfall der DB und sonstiger Verkehrsmittel
Zustand der Strassen lassen wir mal aussen vor, die paar Strassen..

Bei Aemtern und Co KG kann man sich auf was gefasst machen
Bankfilialen verschwinden, gut steril ist halt en vogue
Kinder haben schon Burnout ADHS und sonstiges
800 Apps auf dem Phone, tendenz steigend.

Frueher schaute man raus...so ist das Wetter.
Heute : Dauerbeschallung wie das Wetter aus heutiger Sicht bis zum Oktober sein wird; Korrektur dann ab Morgen.

Produktivitaet:etrunken in der Dokumentationspflicht.

Schon gelesen was auf Insta tiktok fratzenbook X ueber dich steht, was nicht mal du von dir weisst? Dann aber zuegig, der Tag hat nur 24 h und die Nacht dabei.

Gesundheitssystem...naja wo wir da stehen sollte bekannt sein. Grad noch vor der Bundeswehr im Ranking.
Ansonsten alle ueberlastet, die noch da sind.

Monteure wurden von grossen Formaten entlassen und auf selbststaendger Basis wieder angeleint und erhalten somit Auftraeg von diesen.
Wartezeiten zum Service = gefuehlt ewig


Das mit Arbeitsplatzwechsel hat man frueher auch so vollzogen.
Da ging es noch um Geld, wenn man nicht gerade in so eine komode Geschichte wie Bahn, Bayer o.ä. reingerutscht war.
Es gab sogar Empfehlungen so alle 5 Jahre mal zu Wechseln, gebraucht wurde jeder.
Das, so war immer der Leitfaden, sollte man aber so bis Mitte Ende 30 geregelt haben, danach wuerde es unsolide ausehen, genauso wie zu kurze Aufenthaltsdauern bei einzelnen Arbeitgebern.
Also so ganz angenehm ist es immer noch nicht..
Einzig:Amazon liefert fast am gleichen Tag.

[elise]

ich mochte die haptik der zeit damals... man konnte doch einiges mehr anfassen... filme, musik, landkarten... ich fand es irgendwie auch schön, nur einkaufen gehen zu können - wenn ich zu faul war, gabs halt nix neues. die auswahl war kleiner und die qual der wahl somit auch...
den einen oder anderen ärger hatte man nicht - ich war nicht immer erreichbar und musste niemandem erklären, warum nicht. der straßenverker war bei uns aufm kaff überschaubar was die autos angeht, dann gabs noch langsame traktoren, fahrräder und mofas mit denen man sich die feldwege teilte. fertig.
twix hieß noch raider :-)
politik war vielleicht auch komplett daneben, aber ich war noch jung genug um sagen zu können: mir alles wurscht.

ich sehr aber auch durchaus die vorteile von heute... früher wäre das hier schreiben mit wildfremden menschen nur per brieffreundschaft möglich gewesen... war auch toll, aber halt von ganz anderer qualität. da fällt mir ein, dass ich das an früher wieder super fand... brieffreunde. jetzt mag ich aber das schreiben in foren auch gerne.

ich lebe jetzt auch ganz gerne...bin allerdings froh, jetzt nicht jung sein zu müssen - den druck, den social media den kindern und jugendlichen macht möchte ich nicht haben.

[Holgi55]

Sicher war früher so einiges nicht grad prickelnd aber es gab auch sehr viele Sachen die ich heute mit mitte 50 vermisse.
Das es früher mehr Stress gab kann ich nicht bestätigen, ist eher heute so das es viel hektischer und stressiger ist.
Facebook war früher die Kneipe wo man sich getroffen hat und gesellig den "neusten" Tratsch ausgetauscht hat der teils nen paar Tage alt war.
Samstags schön ruhig durch die Innenstadt gelaufen und einkaufen gegangen und sich nen Eis oder so gegönnt dabei.
Als Kind konnte man noch draußen spielen ohne das gleich einer die Polizei gerufen hat wegen angeblicher Ruhestörung beim bolzen.
Da gabs auch noch an jeder Ecke Spielplätze.
Mit meinen Kids musste ich erst mit dem Auto zu einem fahren weil nix in der Nähe war.

Wie schon vorher geschrieben wurde hat jede Epoche seine Vor und Nachteile.
Aber in die Zukunft würde ich nicht reisen wollen außer ich hätte die Garantie da auf die Enterprise zu kommen.
So wie heute schon die Entwicklungen sind sehe ich die Zukunft eher sehr düster.

[zedgonnet]

So wie heute schon die Entwicklungen sind sehe ich die Zukunft eher sehr düster.

sehe ich genauso, ich (auch mitte 50), möchte auch auch um nichts in der Welt nochmal 20 sein. Arbeite auf meinen Ruhestand hin, um dann die letzten 15 - 20 Jahre mit dem zu verbringen was mir spaß macht. Viele Sachen von früher fühlen sich besser an, aber viele Sachen erleichtern das Leben heutzutage auch enorm. Hauptsache die Gesundheit spielt mit, alles andere ist zweitrangig. Stress gehört für mich der Vergangenheit an, den muß man sich nicht antun, das können die jüngeren übernehmen..... dafür sind sie da :-P