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Eigentlich ist es eine Liebesgeschichte. Doch dieses Land und seine Bauern sind sich

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Ungelesen 18.05.21, 18:46   #1
Draalz
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Standard Eigentlich ist es eine Liebesgeschichte. Doch dieses Land und seine Bauern sind sich

Zitat:
Eigentlich ist es eine Liebesgeschichte. Doch dieses Land und seine Bauern sind sich fremd geworden. Wie konnte es soweit kommen?



Ich besuche die Höfe meiner Familie und Freunde. Ich sage: Liebe Bauern, lasst uns reden.

Angelika Hardegger, Text; Christoph Ruckstuhl, Bilder
15.05.2021, 05.30 Uhr


Vor zwei Jahren heiratete eine Freundin einen Bauern. Es war ein Sommertag, wir standen am Ufer des Bodensees, da hörten wir von der Strasse Motoren. Freunde des Bräutigams fuhren auf Landmaschinen heran. Sie lenkten Maishäcksler, Mähdrescher, Erntewagen, Ballenpressen, Traktoren. Ich zählte um die 150 Maschinen. Die Bauern fuhren eine Parade.

Der Bräutigam weinte, wir Gäste applaudierten. Später sass ich mit einem Freund beim Nachtessen. Ich wusste, dass er mit Bauern befreundet ist. Ich fragte, ob ihm die Maschinen gefallen hätten. Er sagte, es sei leider klar, wer sie bezahlt habe. «Wir alle. Mit unseren Steuern.»

Da wurde mir bewusst, dass sich zwischen den Bauern und der Schweiz etwas verändert hatte.

Die Bauern und die Schweiz, das ist eigentlich eine Liebesgeschichte. Die Schweiz schwärmt für die Bauern, seit die Dichter des 18. Jahrhunderts sie heroisierten. Zur Zeit der Weltkriege mündete die Schwärmerei in eine Ehe: Das Essen war knapp, die Bauern erhielten eine privilegierte Stellung im Staat. Es folgten Jahre im Überfluss, es wurde produziert und konsumiert, immer intensiver. Nun steht der Preis dafür in den Schlagzeilen: Verlust der Artenvielfalt, überdüngte Böden, Pestizide in Gewässern. Vier Wochen vor der Abstimmung zu zwei Agrarinitiativen kommt es zum grossen Krach.

Bauern werden an Stammtischen des Internets als Bodenverseucher, Bundesgeldempfänger und Bienentöter beschimpft. Nein-Plakate des Bauernverbands werden angezündet, verzierte Siloballen, die für ein Nein werben, verschandelt. Auf einer steht: «Umweltsäue». Und die Vorwürfe prallen auf Gegenvorwürfe.

Umweltschützer werden als Öko-Krieger verunglimpft, besorgte Bürger der Dummheit bezichtigt. Ihre Plakate werden abmontiert oder zerstört, und Bauern, die für ein Ja werben, wird von gegnerischen Bauern Gewalt angedroht. Ein Leser kritisiert den Pestizideinsatz in einem Brief an die NZZ. Er bittet, nur die Initialen unter den Brief zu drucken. Er habe Freunde aus der Landwirtschaft. Er ziehe die Anonymität vor.

Wann haben die Bauern und ihr Land verlernt, miteinander zu reden? Wie konnte es so weit kommen?

Ich rede ständig mit Bauern. Mit Bauern der Grünen, Bauern der SVP, Bauern der FDP, Bauern der Mitte. Ich schreibe über Schweizer Agrarpolitik und lebe mit einem Bauernsohn zusammen. Er ist Landmaschinenmechaniker, und seine zweite grosse Liebe heisst Babsi. Sie ist das Kalb einer Kuh, die er vor Jahren an der St. Galler Olma ersteigerte. Ich bin Polit-Journalistin und mein Freund der unpolitischste Mensch, den ich kenne. Wir diskutieren nur über ein politisches Thema, die Landwirtschaft. Wir sind selten einer Meinung.

Ich kritisiere die Landwirtschaft oft in Kommentaren. Ich bin dann froh, dass weder mein Freund noch seine Familie noch meine Familie noch andere Freunde die NZZ lesen. Sie lesen den «St. Galler Bauern», den «Schweizer Bauern» oder die «Bauernzeitung». Viele von ihnen sind Bauern.

Wenn die Abstimmungscouverts kommen, legt mein Freund seines normalerweise auf mein Pult. Es fordert mich still auf, das Inhaltliche zu erledigen. Dieses Mal stimme er selbst, das kündigte er vor Wochen an. Er glaubt, ich würde die Zäsur in der Landwirtschaft suchen. Er weiss: Ich bewundere die Bauern für vieles. Aber sie regen mich oft auch fürchterlich auf.

In der Politik verhalten sich die meisten Landwirte stur. Sie politisieren an der Grenze zur Eigensucht. Aber vielleicht habe ich zu sehr auf die Politik fokussiert. Vielleicht habe ich zu selten mit Bauern diskutiert, die mir nahestehen, mit meiner Familie und meinen Freunden. Ich kündige einen Besuch an. Ich will reden.


Ich rede ständig mit Bauern. Mit Bauern der Grünen, Bauern der SVP, Bauern der FDP, Bauern der Mitte. Nun rede ich mit Familien und Freunden. Im Bild Philipp, 30, Obstproduzent.


Philipps Äpfel in der Blüte. Er will Pflanzenschutzmittel ausbringen und nimmt mich mit.

Mein Cousin, der Systemgegner

Mein Vater schenkte meiner Mutter zum ersten Rendez-vous eine Kiste Äpfel. Er wuchs auf einem Hof im hügeligen St. Galler Land auf, er hätte ihn übernehmen dürfen. Er lehnte ab, wurde Gewerbler und stellte dreissig Jahre lang jeden Bauernsohn ein, der dahergelaufen kam. Niemand lerne so hart arbeiten wie Bauernkinder, sagte er. Ich bin überzeugt, dass es stimmt.

Der Hof ging an den jüngeren Bruder, meinen Götti, heute führt ihn mein Cousin. Er heisst Roman, ist zweifacher Vater und für einen Bauern ungewöhnlich blass. Er führt einen für Schweizer Verhältnisse grossen Hof, 70 Milchkühe, 50 Hektaren Land, dazu Kälber, Rinder und Schweine. Grüngesinnte nennen Bauern wie meinen Cousin «Vollgas-Bauern». In meiner Familie ist Roman einfach nur Bauer. Andere, meist grüngesinnte, sind Bauern mit einem «Hobby-» davor.

Mein Cousin stiefelt durch den Stall, ich eile hinterher, ich will wissen: Versteht er die Kritik an der intensiven Landwirtschaft? Wo geht sie ihm zu weit? Er sagt: «Es ist nicht alles sauber, was läuft.» Es werde sehr intensiv produziert, gerade in der Ostschweiz. «Das finde ich nicht super. Also eigentlich wirklich nicht gut.»

Aber mein Cousin ist ein guter Rechner, und seine Rechnung besagt: Die Intensivierung rentiert.

Wir klettern auf den Heuboden. Als mein Grossvater den Betrieb führte, lagerte hier Heu. Unter meinem Götti kamen grosse Futtersäcke dazu, seit mein Cousin Chef ist, sind es noch etwas mehr geworden. Die Futtersäcke enthalten Soja- und Rapsschrot, zugekauftes Kraftfutter, teilweise aus dem Ausland. Mein Cousin nennt es «dieses Zeugs».

Die Trinkwasserinitiative verlangt, dass er auf «dieses Zeugs» verzichtet. Er sagt, er habe bereits versucht, den Anteil zu reduzieren. «Die Milchleistung sinkt. Und die Kühe verdauen schlecht.»

«Ihr verfüttert immer mehr davon», sage ich. «Der Import steigt seit Jahren.»

«Manche Bauern übertreiben es. Aber es rechnet sich für sie, sie handeln unternehmerisch. Man müsste das Futter verteuern, mit einem Zoll, einer Steuer oder so.»

Ich lache. «Eure Lobby hat das in der Politik verhindert.»

Mein Cousin sagt, das glaube er sofort. «Viele Leute verdienen Geld an diesem Futter. Leute mit Beziehungen in die Politik. Die haben es sich bequem gemacht im System.»

Der grösste Futterlieferant der Schweiz gehört zum Agrarkonzern Fenaco. Dessen CEO warnte kürzlich in der Lokalzeitung meines Cousins, die Initiativen seien «existenzbedrohend für die Bauernfamilien der Schweiz». Mein Cousin hat den Artikel aufbewahrt, er spottet: «Existenzbedrohend für uns? Leute wie dieser CEO haben am meisten zu verlieren. Sie treiben das ganze System hoch.»

Mein Cousin spricht, das realisiere ich bald, ziemlich oft vom «System».


Welche Landwirtschaft ist zeitgemäss? Darüber streitet die Schweiz.


Mein Cousin sagt: «Es ist nicht alles sauber, was läuft. Aber wer intensiver produziert, verdient mehr.»

Das Agrarsystem der Schweiz wird beherrscht vom Konzern Fenaco, von der Landwirtschaftspolitik und wenigen Verarbeitern von Rohprodukten. Mein Cousin glaubt, dass das System Fehler enthält. Dass es ökonomische Anreize setzt, viel und intensiv zu produzieren.

Doch Systeme sind schwer fassbar, und mein Cousin, der Bauer, seine Kühe und Futtersäcke auf dem Heuboden – sie sind konkret. Darum steht nun er am Pranger. Er, dieses eine, kleine Schräubchen im System.

Er hat einen Teil des Kraftfutters durch Nebenprodukte aus der Bierherstellung ersetzt. Das sei aufwendig, aber sinnvoll, sagt er. «Doch alle reden nur über das verdammte Soja.»

Das heimliche Herz des Hofes meiner Familie ist die Werkstatt. Sie ist ein eigentlich kalter Ort mit Werkzeug an der Wand, doch sie verbindet Stall und Haus. Mein Vater erzählt, er sei als junger Erwachsener nach dem Ausgang rückwärts durch die Werkstatt ins Haus gelaufen, damit er, wenn sein Vater gekommen wäre, so hätte tun können, als sei er frühmorgens unterwegs zum Stall.

Ich kannte meinen Grossvater kaum. Ich höre, er war ein engstirniger Mensch. Mein Cousin Roman hingegen schwirrt frei. Er beginnt viele Sätze und beendet wenige, als würde er Gedanken anspinnen und mittendrin von interessanteren abgelenkt. Er sagt: «Dem müsste man mal nachgehen», oder: «Das müsste man recherchieren.» Und er ist spitzbübisch radikal.

Wir stehen in der Werkstatt. Er lehnt an der Werkbank, er sagt: «Das Schlauste wäre ein grosser Chlapf. Man müsste alles über den Haufen werfen, alles auf null setzen in der Landwirtschaft. Man müsste die grosse Reform anzetteln.»

Ich lache. «So reden grüne Politiker und die Pestizid-Initianten!», sage ich.

Mein Cousin lacht auch. Er mag ein Systemgegner sein. Aber etwas ist er bestimmt nicht: ein Grüner.

Von Kindesbeinen an

Wenn ich früher vom Hof meiner Freundin Philomena nach Hause fuhr, keuchte ich auf dem Velo. In meiner Erinnerung war der Weg hoch zum Dorf ein Stotz, aus heutiger Betrachtung ist es eine steilere Strasse. Sowieso schien früher alles grösser auf diesem Hof: die Kühe, der Hund, die Schweine, das Haus.

Philomena und ich wuchsen in einem Dorf auf bei St. Gallen. Wir besuchten dieselbe Klasse, denselben Turnverein und dieselbe Gruppe bei der Jungwacht Blauring. Im Zeltlager war sie das einzige Mädchen, das die Motorsäge bedienen konnte. Im Turnverein lief sie über 800 Meter schon auf die Zielgerade, wenn ich erst in die zweite Runde bog.

Jetzt ist Philomena Milchbäuerin, verheiratet, Mutter, Physiotherapeutin und noch immer meine Freundin. Jeden November binden wir Adventskränze auf ihrem Hof, und wenn ich meinen zur Hälfte habe, fängt sie schon den zweiten an. Im Grunde hat sich wenig verändert an unserem Verhältnis. Sie ist noch immer die Stärkere.






Auf dem Hof meiner Freundin Philomena schien früher alles grösser: der Hund, die Kühe, der Stall.

Wir sitzen in ihrer Stube. Ich frage, wie sie die Pestizid-Debatte empfinde. Sie sagt: «Es geht uns einfach zu gut. Wir diskutieren ein Luxusproblem.» Sie führt ihren Hof weniger intensiv als mein Cousin. Ihr Mann sage, sie seien eigentlich dumm: Wer intensiver arbeite, profitiere. Sie sagt: «Ich bezweifle, dass die Natur dir etwas zurückgibt, wenn du immer mehr von ihr verlangst.»

Philomenas Bauernhof war ein exquisiter Spielplatz. Wir schliefen im Heu und entstaubten alte Pferdeboxen. Wir stolperten über die Wiesen und tilgten Unkraut, eine hielt die Herbizidpumpe, die andere zielte. Philomena sagt, sie habe aufgehört, das Unkraut auf der Wiese zu spritzen. Sie sticht es neu aus, so wie die Biobauern. «Darum nerven mich diese Initiativen so. Man tut, als hätte sich gar nichts verändert.»

In Philomenas Stube steht ein Puppenhaus. Ich bewundere es, Philomena sagt, es sei «neu renoviert». Das erinnert mich an meinen Freund, den Landmaschinenmechaniker. Er reparierte im Sommer einen Trettraktor für Kinder – das Spielzeug war über zwanzig Jahre alt. Ein Landwirt hatte den Traktor in die Werkstatt gebracht. Ich konnte es kaum fassen.

Es stimmt schon, was die Bauern sagen: Sie haben Nachhaltigkeit in der DNA. Gerade deshalb verstehe ich nicht, wie sie die Augen vor ein paar unbestreitbaren Problemen verschliessen.

Die Akademie der Naturwissenschaften schreibt in einem Faktenblatt, der heutige Einsatz von Pestiziden belaste die Umwelt «beträchtlich». Ich erzähle Philomena davon, ich frage: «Macht dir das gar keine Angst?»

«Die Messungen sind viel genauer geworden. Das heisst noch nicht, dass das Trinkwasser schlecht ist.»

«Es geht auch um Vögel und Insekten, um Biodiversität.»

«Dann rede doch mal mit Einfamilienhausbesitzern. Die spritzen ihre Steingärten. Die behandeln die Flachdächer mit Herbiziden. Sie streichen die Fassaden mit fungizidem Material.»

«Der Einfamilienhausbesitzer bekommt kein Geld vom Staat, so wie ihr. Das ist nicht dasselbe.»

«Aber das Resultat ist dasselbe! Die Umwelt wird trotzdem verschmutzt.»

Ich denke zurück an die Primarschule. Dort mussten wir jeden zweiten Freitag einen Test im Kopfrechnen ablegen. Philomena heimste Sechser ein, ich die schlechtesten Noten meiner Schulkarriere. Wenn ich ungenügend war, musste mein Vater die Prüfungen unterschreiben, und beim ersten Mal sagte ich, der Test sei schwierig gewesen. Andere hätten noch tiefere Noten. Mein Vater, der Bauernsohn, fand, das sei eine schlechte Ausrede. Ich habe sie dann nie mehr benutzt.


Meine Freundin Philomena ärgert sich über die Initiativen. Sie sagt: «Man tut, als hätte sich gar nichts verändert. »


Die Bauern haben Nachhaltigkeit in der DNA. Gerade deshalb verstehe ich nicht, wie sie die Augen vor ein paar Problemen verschliessen.

Eine Frage der Sprache

Mein Cousin Roman reiste mit 20 nach Neuseeland. Er arbeitete auf einem Milchbetrieb und lernte Englisch. Viele Bauern bauern sogar noch im Sprachaufenthalt. Das hat mich immer fasziniert. Mein Cousin sagt: «Milchwirtschaft funktioniert auf der ganzen Welt gleich. Die Kühe fressen Gras und machen Mist. Du kannst kein Wort verstehen, aber die Arbeit korrekt erledigen.»

Mein Cousin beherrscht die Sprache der Milchbauern. Ich frage mich, ob der Rest der Gesellschaft sie verlernt hat.

Vielleicht ist die Arbeit der Bauern uns so fremd geworden, dass wir Anpassungen verlangen, die unmöglich sind. Aber Biobauern produzieren auch Lebensmittel. Sie sagen: Ertrag und Ressourcenschutz gehen zusammen. Wir beweisen, dass es geht.

Doch Biobauern und konventionelle Bauern sprechen unterschiedliche Sprachen. Konventionelle übersetzen «Bio» mit «Beschiss In Ordnung», viele unterstellen der Biolandwirtschaft Betrug. Mein Cousin Roman erzählt von einem Bionachbarn, der «wahrscheinlich wirklich bio» mache. Ich frage, wie er darauf komme. Er sehe es den Kühen an, sagt er. «Die sehen aus wie Biokühe. Mager.»

Mein Cousin erzählt vom Jahr 1908, als deutsche Chemiker herausfanden, wie Stickstoffdünger sich synthetisch herstellen lässt. Es war «die vielleicht wichtigste Erfindung, von der die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben», so formuliert es der Microsoft-Gründer Bill Gates.

Mein Cousin sagt: «Bio ist, was wir davor hatten, und davor hatten wir immer wieder leere Teller. Stickstoffdünger ist gut.»

Ich: «Aber wir düngen jetzt zu viel.»

«Die Frage, was zu viel ist und was zu wenig, ist schwierig zu beantworten.»

«Die Wissenschaft beantwortet es doch», sage ich. «Sie sagt: Die Schweiz bringt zu viel Dünger aus. Wir stehen europaweit an der Spitze.»

«Wir müssen einen Weg finden, der für die Umwelt erträglich ist. Aber Lebensmittel kultivieren bedeutet auch, zum Ertrag zu schauen. Nur extensivieren, einfach den Retourgang einlegen, das kann es nicht sein.»

Mein Cousin lehnt die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative ab. Er glaubt, dass die Zukunft der Landwirtschaft nicht in der Vergangenheit liegen kann. Ich gehe mit ihm einig, aber ich weiss auch: Laut der Wissenschaft ist der Status quo unhaltbar. Was ist dann die Alternative?

Ich habe mich oft gefragt, wie im Kampf um die «industrielle Landwirtschaft» untergehen kann, dass der Rest der Gesellschaft schon im nächsten Zeitalter lebt. Die Digitalisierung der Höfe kann die Landwirtschaft viel ökologischer machen. Sie wird gezielte Düngung erlauben. Roboter werden Unkräuter oder Schädlinge eliminieren können. Experten gehen davon aus, dass wir so bis zu 90 Prozent der Pflanzenschutzmittel einsparen werden.

Das Problem ist: In der Schweizer Agrarpolitik wird die Digitalisierung kaum gedacht. Sie wird das Berufsbild der Bauern verändern – und danach sehnt sich niemand. Bauer sein ist nie nur Beruf. Es bestimmt die Identität.

Vergangenen Herbst wurde meine Grossmutter beerdigt. In der Kirche las eine Tante den Lebenslauf vor. Er war schön und treffend, er bestand aus Verben der Arbeit: rüsten, nähen, lismen, flicken. Putzen, ernten, rechen, misten. Meine Grossmutter schaffte mit den Händen, und sie schaffte viel. Im Alter entschuldigte sie sich bei jedem Wiedersehen dafür, dass sie nicht mehr arbeiten könne. Sie glaubte, wenn die Arbeit vorbei sei, sei es auch das Leben.

Die Frage, was «Bauer sein» bedeutet, beschwert jede Kritik an der Landwirtschaft. Für meinen Cousin bedeutet es: Milch produzieren. Dafür steht er sonntags, wenn «wenig» Arbeit ist, um viertel vor sechs im Stall. Mein Cousin richtet das Leben nach der Arbeit – so wie Philomena, wie fast alle Bauern der Schweiz. Darum sind die Bauern von der Kritik an ihrer Arbeit so verletzt. Sie kann formuliert sein als Kritik an einer Praxis, an einer Arbeitsweise. Sie wird verstanden als Kritik an Leben und Identität.

Kultur, das Gegenteil der Natur

«Es geht los», schreibt ein Freund per Whatsapp. Es ist ein Dienstag Ende April. Der Wetterdienst kündigt Regen an. Der Freund, Philipp, ein Obstbauer, befürchtet Pilzbefall. Er will Pflanzenschutzmittel spritzen und nimmt mich mit. Ich fahre zu seinem Hof an der Grenze zum Thurgau. Ich höre ihn in einem Lagerraum hantieren.

Im Raum lagern Kanister, Dosen, Fläschchen und Säcke. Ich trete ein und rümpfe die Nase. «Es riecht nach Chemie», sage ich. Er lacht und antwortet: «Man gewöhnt sich daran.»

Am Vorabend des ersten Shutdowns trank ich mit Philipp Bier in einer heruntergekommenen Beiz. Im August feierten wir seinen 30. Geburtstag neben dem Schweinestall. Es war unbeschwert und fröhlich, Philipp hatte, wie so oft im Sommer, ein sonnenverbranntes Gesicht. Er kultiviert Äpfel, Zwetschgen, Birnen, Christbäume und hält Schweine. Das sind hochintensive Kulturen. Sie sind auch rentabel.






Mein Freund Philipp kultiviert Äpfel, Zwetschgen, Birnen, Christbäume und hält Schweine.

Philipp verdient sein Einkommen am Markt. Er bekommt kaum Direktzahlungen vom Bund. Wird die Trinkwasserinitiative angenommen, verzichtet er lieber auf das Bundesgeld als auf Pestizide. Dann darf er heutige Ökowiesen landwirtschaftlich nutzen, auch andere Vorschriften fallen weg. Darum sagen die Bauern und der Bundesrat, die Trinkwasserinitiative schade mehr, als sie nütze.

Vor dem Lagerraum mit den Kanistern rattert ein Traktor. Philipp hat ein Fass angehängt. Er öffnet den Deckel, misst Flüssigkeiten und Pulver ab, kippt sie in das Fass. Ich stehe im Weg und frage: «Was spritzen wir denn?»

Er liest ab: Fungizide gegen Mehltau und Schorf, verschiedene Dünger, einen Blattdünger, noch ein Mittel gegen Mehltau. «Eine ziemliche Mischung!», necke ich.

Philipp legt die Liste weg. «Die Äpfel stehen in der Blüte», sagt er. «Das ist der heikelste Zeitpunkt. Da schaust du, dass du gut abgedeckt bist.»

Er sagt auch, die meisten Produkte seien im biologischen Landbau zugelassen. «Das kannst du praktisch trinken.» Ich lache. Ich kenne seinen Hang zur Übertreibung.

Philipp ist ein Lieblingskind der Medien. Das «St. Galler Tagblatt» begleitete ihn einst zum Christbaumverkauf auf den Klosterplatz. Gegenüber dem Migros-Magazin erzählte er, er könne sich «nichts Schöneres vorstellen, als in der Natur zu arbeiten und das Wechselspiel von der Blüte bis zur Ernte mitzuerleben». Einmal drehte die Migros Werbung auf seinem Hof. Er stand im Film breitbeinig im Obstfeld, schnallte einen Erntekorb um, las eine Frucht ab, legte sie sanft in den Korb.

Ich lachte, als ich die Werbung zum ersten Mal sah. Es war nah an Kitsch.

Im Tank des Traktors schäumt die Chemie. Philipp wirft einen prüfenden Blick hinein. «Du erinnerst mich an den Typen aus Breaking Bad», sage ich, «du weisst schon, den Giftmischer!» Er lacht und mischt weiter. Die Serie hatte ihm schlechter gefallen als mir.

Später zwänge ich mich neben Philipp in die Kabine des Traktors. Es ist nach acht Uhr abends, es dämmert. Darauf warten die Bauern, wenn sie Pflanzenschutzmittel spritzen. Die Bienen sollen zurück im Stock sein. Philipp lenkt auf die Bäume zu, sie sind akkurat in Reihen gepflanzt. Ich frage, wie oft er das bis zur Ernte wiederholen müsse. «Acht bis zehn Mal, je nach Wetter», sagt er. Er blickt über eine Schulter zum Tank. Die Drüsen versprühen Dünger und Pestizide. Ich bewundere die Szenerie.

Man nennt den Ort, wo Obstbäume aufgezogen werden, Baumschulen. Ich halte es für eine der treffendsten Bezeichnungen unserer Sprache. Obstfelder haben etwas unglaublich Diszipliniertes. Sie sind aufgeräumt und geordnet. Sie sind das Gegenteil von Natur.


Suchen wir Natur, wo per Definition keine sein kann? Philipp in der Apfelkultur.


Der Hofhund vor einer Scheune.

Wir haben ausgespielt

Bauern haben ein eigenes Verhältnis zur Natur. Es ist eng – und gerade deshalb pragmatisch. Auf dem Hof meiner Freundin Philomena lebt, seit ich denken kann, ein Hund. Wenn er stirbt, kommt ein neuer, und der neue heisst wie der alte, Hektor. Bauern kennen die Natur besser als wir. Sie sind sich ihrer Grenzen bewusst.

Philomena zieht Gemüse in einem Garten neben dem Haus. Sie spritzt dort gar keine Chemie, sie sagt, sie denke schon, «dass dieses Zeugs uns nicht guttut». «Aber im Garten wächst dann nur, was wachsen will. In einem guten Sommer ernte ich viel. Im schlechten wenig. Das Rüebli hat mal zwei Beine, und der Broccoli ist klein. Im Laden kauft das niemand.»

Der Hausgarten ist Philomenas Hobby, ihr Spielplatz, so wie es früher der Hof für uns Kinder war. Jetzt sichert der Hof ihre Existenz. Er ernährt ihre Familie – und ernährt er nicht auch uns?

Bei meinem Freund Philipp mussten vor ein paar Jahren 8000 Apfelbäume gerodet werden. Sie waren von einer bakteriellen Seuche befallen, dem Feuerbrand. Als die Familie die Infektion entdeckte, wurden Schwiegereltern und Verwandte zusammengerufen. Sie gingen von Baum zu Baum, kontrollierten Ast für Ast. Die Krankheit hatte sich weit ausgebreitet.

Die Lokalzeitung schickte einen Reporter. Der Bericht liest sich wie eine Reportage vom Ort einer Naturkatastrophe. Die Mutter weinte und bedankte sich für die Solidarität. Der Vater sagte, man müsse «vorwärtsschauen»: Nur wenn Feuerbrand künftig mit Antibiotika bekämpft werden dürfe, sagte er, ergebe es «überhaupt noch Sinn, Äpfel anzupflanzen».

Heute sind Antibiotika in der Feuerbrandbekämpfung verboten. Philipp pflanzt, wie der Vater, noch Äpfel an. Er sagt, man habe die Krankheit im Griff: «Wir roden sofort, wir schneiden raus, wenn etwas befallen ist.»

Ich sage: «Es könnte beim chemischen Pflanzenschutz ähnlich sein. Vielleicht sagen wir jetzt: Es geht nicht ohne. Dabei fänden wir Alternativen.»

«Wir verwirren heute schon Schädlinge mit natürlichen Botenstoffen, das ist eine neue Technik. Aber davon spricht niemand.»

«Vielleicht müssten wir intensiver nach neuen Techniken suchen.»

«Wir suchen doch. Es wird viel geforscht. Aber das braucht Zeit. Das geht nicht von heute auf morgen.»

Philipp sitzt in Handwerkerhosen auf dem Traktor. Ich sehe ihn zum ersten Mal bei der Arbeit, ich kenne ihn nur frisch gekleidet, rasiert, frisiert und gewaschen. Er tritt makellos auf, und makellos kultiviert er seine Äpfel. Er sagt: «Wenn du schöne Äpfel willst, geht es heute nur mit Pflanzenschutz. Jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt.»

Im Radio hatten sie am Mittag berichtet, dass Pestizide die Spermienqualität beeinflussen. Ich erzähle Philipp davon. Die Forscher hätten 3000 Proben von Rekruten untersucht, «die Söhne von Coiffeusen und Bäuerinnen waren besonders betroffen».

Philipp lacht.

«Im Ernst», sage ich. «Weil Coiffeusen und Bäuerinnen mit Chemie arbeiten.»

«Gut, habe ich mich damals von der Coiffeuse getrennt», witzelt er. «Ein Bauer und eine Coiffeuse: Das hätte ja Kinder gegeben!»

Philipp wird bald mit seiner Freundin zusammenziehen, sie ist Physiotherapeutin. Sie beziehen das Bauernhaus auf dem Hof, Mitte Juni, kurz vor oder nach dem Abstimmungstag. Er sagt, es gebe dann hoffentlich zwei Gründe für ein Fest, «da kommst du dann auch». Ich sage Ja, ich käme gern.

Zu jeder Entfremdung gehören zwei

Kürzlich las ich in der Zeitung ein Protokoll aus einer Paartherapie. Die Paartherapeutin sagte, es gebe drei Sorten von Beziehungen: Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander. Gegeneinander-Paare, so las ich, «erkennen sofort den Splitter im Auge des anderen, aber nur selten den Balken vor dem eigenen Auge».

Ich dachte, die Bauern und die Schweiz seien ein Gegeneinander-Paar.


Sauberes Wasser und Pflanzenschutz – beides muss möglich sein.

Bundesrat Guy Parmelin beklagte vergangene Woche im «Blick», die Gesellschaft habe sich von den Bauern entfremdet. Früher habe jeder einen Landwirt gekannt, einen Grossvater, einen Onkel. «Heute haben die Leute diesen Bezug verloren.»

Ich glaube, das stimmt. Die Bauern sind der Gesellschaft fremd geworden, ihre Arbeit, die Zwänge der Natur, die Tatsache, dass Natur und Kultur sich unterscheiden. Aber zu jeder Entfremdung in einer Beziehung gehören zwei.

Hätte mein Freund Philipp einen Grossvater beim Gewässerschutz, könnte er die Kritik am Pestizideinsatz eher nachvollziehen. Hätte in meiner Familie jemand Biologie studiert, würde mein Cousin vielleicht weniger düngen. Viele Bauern unterschätzen die Gefahren der intensiven Landwirtschaft. Viele Konsumenten unterschätzen ihren Nutzen.

Beides – Nutzen und Gefahr – ist wissenschaftlich belegt. Darum wäre der grosse Krach, würde er leise geführt, eine grosse Chance.

Wir könnten ein Miteinander-Paar sein. Wir könnten die Landwirtschaft von morgen denken, wenn alle «die Balken vor dem eigenen Auge ablegen» würden. Die Bauern und die Gesellschaft haben ein Haus auf Lebzeiten bezogen. Sie leben eine Ehe, die keine Scheidung zulässt. Jede Ehe kommt mit Rechten und Pflichten, und sie werden ständig neu verhandelt. So sagen sie es an Hochzeiten.
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