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Silent Running
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Corona Briefe: Europäische Union - Lieber Sebastian – Liebe Sawsan
Zitat:
Aus der Serie Corona - Briefe
Europäische Union
Lieber Sebastian – Liebe Sawsan
Die Eltern der SPD-Politikerin flohen aus Palästina nach Deutschland, der österreichische Bundeskanzler gilt als Hardliner in der europäischen Flüchtlingspolitik.
Sie verbindet eine Freundschaft und die Frage: Was hält Europa zusammen?
3. Juli 2020, 8:00 Uhr Aktualisiert am 3. Juli 2020, 19:20 Uhr

Sawsan Chebli (41) und Sebastian Kurz (33) lernten sich 2015 während eines Außenministertreffens in Brüssel kennen. Damals war Chebli Sprecherin des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Kurz war gerade zum Außenminister Österreichs benannt worden. (Fotomontage) © Britta Pedersen/DPA Zentralbild/Picture Alliance/DPA; Jose Giribas/SZ Photo [M]
Sawsan Cheblis Brief ist rein privater Natur und spiegelt nicht die Position der Senatskanzlei wider.
Lieber Sebastian,
ch schreibe Dir, weil ich mir große Sorgen um den Zustand Europas mache und ich glaube, dass Du eine maßgebliche Rolle bei der Beantwortung der Frage spielen kannst, wohin Europa steuert. Europas Schicksal liegt auch in Deiner Hand – nicht nur als Regierungschef eines europäischen Landes, sondern auch als Vertreter einer Generation, auf die es heute ankommt.
Wie Du weißt, bin ich als Kind palästinensischer Flüchtlinge in Berlin geboren. Elf meiner Geschwister wurden in einem Lager im Libanon geboren, meine jüngste Schwester und ich in Berlin. Wir waren 15 Jahre staatenlos. Reisen durfte ich in der Zeit nicht. Überall standen für mich Mauern und Grenzen.
Europa ist für mich das, was ich als staatenloses Kind nicht hatte – Freiheit, Zugehörigkeit, Solidarität und Grenzenlosigkeit. Es ist die Freiheit, reisen zu dürfen und dazuzugehören, zu einer Gemeinschaft mit Solidarität und gemeinsamen Werten. Umso mehr schmerzt es, zu sehen, wie gespalten wir Europäer heute sind, durch Egoismen und Interessen einzelner Regierungen.
Auch Du hast in den letzten Jahren leider immer wieder Entscheidungen getroffen, die diesen Trend verstärken. Sie haben aus meiner Sicht zu einer Fragmentierung der Europäischen Union beigetragen und womöglich den europäischen Gedanken geschwächt. Zuletzt, als Du den Vorschlag von Angela Merkel und Emmanuel Macron zu einem Corona-Wiederaufbauplan für die am schwersten betroffenen EU-Staaten ablehntest. Dabei bietet die Bewältigung der Corona-Krise eine große Chance, dem europäischen Gedanken Leben einzuhauchen und Bedeutung zu verleihen: Wir lassen niemanden im Stich, keiner muss betteln, um in Not Solidarität zu erfahren.
Zitat:
SAWSAN CHEBLI
ist seit 2016 Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei.
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Die Pandemie nimmt keine Rücksicht auf nationale Grenzen. Das Denken in engen nationalen Grenzen führt nicht zur Lösung der Probleme. Kein Land in Europa wird erfolgreich aus der Krise kommen, wenn die Nachbarn in die Rezession abgleiten, wenn die Nachfrage stagniert und Lieferketten abreißen. Mehr denn je sind deshalb Solidarität und grenzüberschreitende Lösungen gefordert. Du lehnst den Wiederaufbauplan ab und hast, anstatt nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen, einen Gegenvorschlag unterbreitet, den die besonders stark betroffenen Staaten als demütigend empfinden mussten. Du wolltest, wie du es formuliert hast, nicht, dass die Coronahilfe zu einer "Schuldenunion durch die Hintertür" wird. Der Begriff der Schuldenunion stimmt mich traurig angesichts der Bilder aus Bergamo und Madrid.
Ich habe mich zum wiederholten Mal gefragt, was aus dem Sebastian Kurz geworden ist, den ich 2015 kennen- und schätzen gelernt habe, der mit viel Leidenschaft für ein starkes und geschlossenes Europa kämpfte. Wir sind uns erstmals begegnet, als ich stellvertretende Sprecherin des deutschen Außenministers war. Du warst damals frisch gebackener Außenminister Österreichs und Minister für Europa und Integration. Ich begleitete Frank-Walter Steinmeier zu den Außenministertreffen nach Brüssel. Dort begegneten wir uns und tauschten uns über die Ukrainekrise, Griechenland, den Bürgerkrieg in Syrien aus. Auch über den Islam und die Integration von Muslimen in Europa haben wir angeregt diskutiert.
Ich bewunderte Dich. Ich war begeistert, mit welcher Bodenständigkeit Du in Brüssel aufgetreten bist, und vor allem, mit wie viel Herz Du Dich für Solidarität und gemeinsame europäische Lösungen starkgemacht hast. Oft im Schulterschluss mit Steinmeier.
Als Kind von Flüchtlingen und Migranten verfolge ich Deine Politik zu Integration heute natürlich genau.
Auch dieses Thema, so dachte ich zumindest, war Dir eine Herzensangelegenheit. Du erzähltest damals von Deiner Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg aus Serbien nach Österreich geflohen war. Du berichtetest, dass Du früh Kontakt zu Kindern mit Fluchterfahrung hattest, weil Dein Vater eine Familie aus Ex-Jugoslawien aufgenommen hatte, auf Eurem heimischen Hof in Niederösterreich. Aus Deinen Erzählungen hörte ich Empathie für Menschen, die ihre Heimat verlassen und sich nichts sehnlicher wünschen, als eine neue Chance für ein neues Leben in Frieden zu bekommen. Denen hast Du Dich als Integrationsminister zugewandt und ihnen eine Plattform gegeben.
Unter dem Hashtag #stolzdrauf hast Du zugewanderte Österreicherinnen und Österreicher vorgestellt, die Österreich mit ihrem Einsatz – ob beruflich oder ehrenamtlich – bereichern. "Bravo, so geht Integration!", wollte ich Dir zurufen. So kann ein neues Wir entstehen, das alle mit einbezieht, egal woher ihre Familien stammen, welche Sprache sie sprechen oder wie der Gott heißt, an den sie glauben. "Bravo", wollte ich Dir zurufen, weil nicht nur Integration so geht, sondern auch Europa. Europa war immer dann stark, wenn es galt, sich gemeinsame Ziele zu setzen und dann gemeinsam auf sie hinzuarbeiten: Frieden, Freiheit und Wohlstand für alle. Für Werte einzustehen, auf deren Fundament Europa nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs aufgebaut wurde.
Dann kam Deine Kehrtwende. Oft hörte ich von Dir eine Sprache, deren sich sonst die Rechtspopulisten bedienen. Eine Sprache, die nicht verbindet, sondern spaltet: Du sprachst davon, dass man "die Zuwanderung in unser Sozialsystem beenden" müsse, und schlugst vor, Flüchtlinge auf einer Insel im Mittelmeer zu internieren, nach australischem Vorbild.
Damit sie nicht für ihren illegalen Grenzübertritt belohnt würden. Ich fragte und frage mich: Was stimmt heute nicht mehr an dem, was noch vor ein paar Jahren galt? Woher rührt diese Kälte? Wäre nicht gerade jetzt der Zeitpunkt, die Botschaft, für die Du damals standst, noch einmal zu bekräftigen?
Wäre es nicht gerade jetzt wichtig, sich mit den von Corona geschwächten Mitgliedsstaaten solidarisch zu zeigen und sie zu unterstützen? Und zwar ohne Bedingungen, welche die Betroffenen zu Bittstellern degradieren? Wäre es nicht gerade jetzt wichtig, Empathie mit Geflüchteten zu zeigen und einen neuen Anlauf zu nehmen, um Menschen aus den überfüllten Lagern in Griechenland aufzunehmen und damit zu zeigen: Wir nehmen die europäischen Werte ernst?
Wäre es nach all dem Spalten und Hetzen, welches das gesellschaftliche Klima in Deutschland, Österreich und anderen Ländern Europas zunehmend vergiftet, nicht Zeit, #stolzdrauf wiederzubeleben?
Ich glaube fest daran, dass wir nur dann eine Chance haben, als Europäer in dieser Welt zu bestehen, wenn wir unsere nationalen Interessen zu europäischen Interessen machen – und natürlich umgekehrt. Wenn Europas Sorgen auch unsere Sorgen sind und Europas Erfolg unser gemeinsamer Erfolg wird.
Diesen Brief richte ich an Dich, den Menschen und Politiker Sebastian Kurz. Ich möchte ihn nicht als belehrende Kritik aus Deutschland an Österreich verstanden wissen. Dazu gibt es nämlich keinen Anlass. Auch die Deutschen tun nicht genug. Auch wir Deutschen schauen zu oft darauf, was uns kurzfristige Vorteile einbringt, anstatt darauf, was für uns als Europäer das Beste wäre.
Noch liegt es in unserer Hand, das zu ändern. Und in der Hand unserer Generation. Heute zeigen uns Schülerinnen und Schüler, Jugendliche aus allen Ländern, wie man Egoismus überwindet und für eine gemeinsame Sache kämpft.
Lass uns nicht zu früh alt und träge werden und uns nicht darauf berufen, dass Politik nun einmal so ist, wie sie ist. Du hast nicht nur die Macht, sondern auch den Verstand und die Leidenschaft, um Dinge zu verändern. Ich würde mich freuen, wieder mehr von dem Sebastian Kurz zu hören, den ich einmal kannte. Und ich bin sicher, dass es ihn noch gibt.
Lieber Gruß
Sawsan Chebli
Antwort von Sebastian Kurz
Liebe Sawsan,
vielen Dank für Deinen Brief! Ich halte es für wichtig, dass wir gerade auch in schwierigen Zeiten wie diesen weiterhin offen diskutieren können, auch wenn wir teils unterschiedlicher Meinung sind. Der Respekt vor der Meinung des anderen und die Diskursfähigkeit machen unter anderem die Stärke unserer Demokratien in Europa aus.
Ich habe sehr großen Respekt vor Deinem persönlichen Werdegang. Dein Beispiel kann vielen anderen Menschen Mut machen, denn Du hast es durch Deine eigene Leistung weit gebracht.
Beide sind wir auch mit dem Anspruch in die Politik gegangen, Dinge zu verändern, nicht einfach den Status quo hinzunehmen. Seit meiner Zeit als Staatssekretär für Integration war es mir, wie Du auch selbst schreibst, ein sehr wichtiges Anliegen, erfolgreiche Beispiele für Integration vor den Vorhang zu holen unter dem Motto "Integration durch Leistung". Daher haben wir seit damals Integrationsbotschafter, die zum Beispiel in Schulen von ihrem Werdegang erzählen, um anderen Mut und Inspiration zu geben. Gemeinsam mit der Caritas habe ich das Projekt der "Lerncafés" gestartet, damit lernschwachen Kindern auf einfache Art und Weise Nachhilfe gegeben werden kann.
Mir war es stets ein großes Anliegen, die Debatte über Integration in Österreich wieder zu versachlichen abseits von linken Träumern und rechten Hetzern. Man soll Probleme nicht zudecken, aber auch nicht ausnützen, man soll Probleme ansprechen, aber nicht missbrauchen. Zuwanderer sollten ermutigt werden, sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sehen und ihren Beitrag zu leisten. Grundwerte wie die Gleichstellung von Mann und Frau oder Meinungsfreiheit dürfen aber von niemandem infrage gestellt werden, der Entwicklung von Parallelgesellschaften müssen wir von Anfang an Einhalt gebieten.
Zitat:
SEBASTIAN KURZ
ist seit 2017 Kanzler der Republik Österreich.
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Daher haben wir in Österreich das Islamgesetz modernisiert, um einen Beitrag zur Schaffung eines Islams europäischer Prägung zu leisten und für eine zeitgerechte Imame-Ausbildung in Österreich zu sorgen. Dafür war es aber von essenzieller Bedeutung, die teils starke Abhängigkeit gewisser islamischer Gemeinden in Österreich, vor allem der türkischen, vom Ausland zu reduzieren. Denn nur wenn Predigten von Imamen in Österreich selbst geschrieben werden, die unsere Gesellschaft und Lebensrealität kennen, und eben nicht von einer zentralen Behörde wie der türkischen Religionsbehörde Diyanet zentral aus Ankara verteilt werden, kann uns ein Islam europäischer Prägung und eine erfolgreiche Integration gelingen.
Die Corona-Pandemie nimmt in der Tat keine Rücksicht vor nationalen Grenzen, wie Du richtig schreibst. Daher hat Österreich auch von Anfang an Solidarität gezeigt. Wir haben Intensivpatienten aus Italien, Frankreich und Montenegro aufgenommen, um Leben zu retten. Italien sowie die Staaten des Westbalkans haben von uns zudem Hilfslieferungen mit Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel erhalten. Eine enttäuschende Erfahrung für uns war aber auch, wie teils nationale Egoismen zu Beginn der Pandemie überhandgenommen haben. So gab es zum Höhepunkt der Krise in Europa nationale Exportverbote für Schutzausrüstung, wie etwa von Deutschland. Erst nach Wochen wurde dieses wieder aufgehoben.
Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden wollen den von der Krise am meisten betroffenen Staaten, wie Italien, Frankreich oder Spanien, natürlich helfen. Wir haben bereits ein 540 Milliarden Euro schweres Hilfspaket auf den Weg gebracht, das insbesondere dem Gesundheitssektor in diesen Ländern seit Juni zur Verfügung steht. Wir unterstützen auch die Idee eines europäischen Wiederaufbaufonds. Hier haben wir allerdings auch eine große Verantwortung gegenüber unseren Steuerzahlern, die durch die schwere Rezession in unseren eigenen Ländern bereits eine hohe Last zu schultern haben.
Wie kann es plötzlich verantwortungsvoll sein, 500 Milliarden Euro geborgten Geldes auszugeben und die Rechnung in die Zukunft zu schicken? Mein Verständnis von Europa ist jedenfalls nicht, dass wir Vorschläge von Berlin und Paris einfach abnicken. Es ist gut, dass zwei so große Mitgliedsstaaten der EU wie Deutschland und Frankreich Vorschläge vorlegen, um einen wichtigen Beitrag zur europäischen Debatte zu leisten. Genauso wichtig ist es aber, dass wir uns Europa als Ort lebhafter Diskussionen auf Augenhöhe erhalten.
Jeder EU-Mitgliedsstaat ist mit Sitz und Stimme im Rat vertreten. Wir sind keine schlechteren Europäer, nur weil wir auf die Verantwortung gegenüber unseren Steuerzahlern verweisen, für eine klare zeitliche Befristung und Kredite statt Zuschüssen eintreten. Die Mehrheit der Österreicher lehnt eine Schuldenunion, euphemistisch auch als Fiskalunion bezeichnet, ab. Seit der Gründung des Euro wurde unseren Bürgern versichert, dass es zu keiner Vergemeinschaftung der Schulden kommen werde. Diese Haltung vertrete ich aus Überzeugung.
In dieser schwierigen Notlage müssen wir einander helfen in Europa. Aber mit Augenmaß und Verantwortung. Das sind wir zukünftigen Generationen schuldig. Österreichische oder deutsche und europäische Interessen schließen sich in dieser Frage keineswegs aus, sondern ergänzen sich vielmehr. Insofern bin ich auch zuversichtlich, dass am Ende, wie auch so oft zuvor in schwierigen Sachfragen, eine Einigung in der Frage des europäischen Wiederaufbaufonds gelingen wird.
Es muss uns wieder gelingen, Europa näher an die Bürger zu bringen. Der Austausch in Europa ist wichtig und wir wollen daher als Bundesregierung auch möglichst viele 15- bis 20-Jährige nach Brüssel reisen lassen, um die EU kennenzulernen. Ich freue mich auf weitere Diskussionen darüber mit Dir, wie wir Europa gemeinsam besser und bürgernäher gestalten können.
Liebe Grüße
Sebastian Kurz
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