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"Immer wieder sterben Leute auf dem Weg zum nächsten Job"

 
 
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Ungelesen 29.04.21, 18:46   #1
Draalz
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Standard "Immer wieder sterben Leute auf dem Weg zum nächsten Job"

Zitat:
Jessica Bruder

"Immer wieder sterben Leute auf dem Weg zum nächsten Job"


Die Verfilmung ihres Buchs "Nomadland" ist mit einem Oscar ausgezeichnet worden. Im Interview beschreibt Jessica Bruder das harte Leben der Arbeitsnomaden in ihren Vans.
Interview: [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]

26. April 2021, 17:36 Uhr


Van in USA. Mitunter legen die arbeitssuchenden Rentnerinnen und Renter für einen Job Tausende Kilometer zurück. © Brandon Mowinkel/​unsplash.com

Für einen Ruhestand fehlt das Geld, also ziehen Tausende Rentner in den USA in ausgebaute Vans und fahren quer durchs Land – auf der Suche nach Arbeit. Die Journalistin Jessica Bruder hat diese Leute mehrere Monate lang begleitet und darüber ein Buch geschrieben. Die Verfilmung ihres Buchs "Nomadland" ist bei den [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ].

ZEIT ONLINE: Sie fuhren mehrere Monate lang mit einem Wohnmobil durch die [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], um [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] zu begleiten. Wer sind diese Leute?

Jessica Bruder: Es sind vor allem weiße Rentner. Sie haben ihre Wohnungen oder Häusern aufgegeben und leben das ganze Jahr über in Autos oder Wohnwägen, weil sie sich den Ruhestand ohne Arbeit nicht leisten können. Sie reisen in einer Art dauerndem Road-Trip von Job zu Job, warten Fahrgeschäfte in Vergnügungsparks, fällen Weihnachtsbäume, um sie an einer Straßenkreuzung zu verkaufen oder stehen hinter Theken von Würstchengrills oder Fastfoodrestaurants. Viele sind Saisonarbeiter, sie helfen als Platzwart von Campingplätzen oder unterstützen bei der Zuckerrübenernte, obwohl viele von ihnen einen Beruf gelernt oder sogar einen Uniabschluss haben

ZEIT ONLINE: Was brachte diese Menschen in so eine Situation?

Bruder: Die Leute haben mir alle möglichen Gründe erzählt. Viele waren beruflich an ihren Heimatort gebunden. Die Löhne blieben gleich niedrig, während die Mieten immer weiter stiegen. Der Mindestlohn in den USA beträgt 7,40 Dollar die Stunde – von diesem Geld kann man landesweit nur in etwa einem Dutzend Städten seine Miete bezahlen. Das amerikanische Rentensystem liefert nur Zuschüsse für den Lebensabend, es setzt darauf, dass man während des Arbeitslebens genug anspart für den Ruhestand. Das funktioniert nicht länger, die Miete frisst bereits den Großteil der Einnahmen. Die Weltfinanzkrise 2008 war auch ein großer Faktor. Durch die Krise schlossen viele Firmen, Jobs waren nur schwer zu bekommen und gerade die Älteren hatten kaum eine Chance im Wettbewerb um neue Arbeit. Viele Menschen mussten sich plötzlich entscheiden: Bezahle ich meine Miete, oder leiste ich mir Medikamente? Wie viel kann ich am Essen sparen? Da erschien vielen ein Leben unterwegs im Wohnmobil als bessere Option.

Zitat:

Journalistin Jessica Bruder während der Premiere des Films "Nomadland", der auf ihrem gleichnamigen Buch basiert © Amy Sussman/​Getty Images
ZEIT ONLINE: Wie viele dieser Arbeitsnomaden gibt es?

Bruder: Offizielle Zahlen gibt es nicht, auch deshalb, weil diese Gruppe keine Lobby hat, die sich für sie einsetzt. Ich schätze aber, sicher mehrere Zehntausend, vielleicht sogar Hunderttausend. Zu entdecken, wie unglaublich viele Menschen auf diesen Lebensstil angewiesen sind, hat mich schockiert. Mein Leben lang dachte ich über Leute in Campern: Das sind Senioren mit einem dicken Bankkonto, die ihre goldenen Jahre jetzt noch einmal nutzen, um das Land zu sehen, zu reisen und vielleicht an der Küste Urlaub machen. Stattdessen werden diese mittellosen Rentner oft ausgebeutet. Manch ein Megakonzern fährt große Kampagnen auf, um die Nomaden als Saisonarbeiter zu gewinnen.

ZEIT ONLINE: Sie spielen auf die sogenannte Camperforce des Versandhändlers [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] an.

Bruder: Exakt. Vor allem das Weihnachtsgeschäft von Amazon in den USA wäre undenkbar, würde der Konzern nicht gezielt auf die vielen Rentner setzen. Die arbeiten zu Tausenden in den Versandlagern, als Sortierer oder Verpacker. An besonders erfolgreichen Aktionstagen wie dem Cyber Monday werden landesweit schon einmal mehr als 400 Pakete in der Sekunde bestellt. Was das für die teilweise über 70 Jahre alten Frauen und Männer im Versandlager bedeutet, ist klar. Fast alle Rentner gehen über ihre Grenzen. Und Amazon weiß das: In den Lagerhallen sind Automaten aufgestellt, die gratis Schmerztabletten ausgeben. Diese unglaublich harte Arbeit verkauft der Konzern im Yippie-Slang eines Sommercamps: "Komm zu uns und du tust etwas für deine Fitness und verdienst zugleich noch Geld" – so in etwa steht es auf Flyern, die Amazon auf den Campingplätzen verteilt, die der Konzern eigens für seine Saisonarbeiter anmietet hat. Trotzdem sind diese Jobs attraktiv für die Nomaden, vor allem wegen der Jahreszeit. Die Hochsaison beginnt bei Amazon im Oktober, so hat man direkt nach der Zuckerrübenernte sein nächstes sicheres Einkommen. Zumindest solange man es in die Lagerhalle schafft, um zu arbeiten. Fällt man wegen einer Krankheit aus, gibt es keinen Lohn. Die Leute akzeptieren das, sie wissen: Arbeitswillige gibt es genug. Deshalb sind sie sind schon froh, wenn sie nicht sofort durch eine andere Person ersetzt werden.

ZEIT ONLINE: Wie sieht das typische Jahr eines Arbeitsnomaden aus?

Bruder: Die Arbeitsnomaden folgen einer Art Saisonplan, Pause haben sie meist im Winter, kurz nach Weihnachten. Da gibt es die wenigsten Jobs. Und das ist der Grund, weshalb viele Nomaden schlicht dem Wetter weiter nach Süden folgen, da ist es warm und die Lebenserhaltungskosten sind günstig. Im Norden der USA zu bleiben wäre Wahnsinn, im Januar sinken die Temperaturen da immer wieder weit unter den Gefrierpunkt. Seine Nächte möchte man da nicht frierend in einem ausgekühlten Auto verbringen. Im Frühjahr beginnen die Jobs als Platzwächter bei Zelt- und Lagerplätzen. Nahezu die gesamte Zeltplatz- und Campingindustrie lebt von den Arbeitsnomaden. Rentner für eine Saison zu beschäftigen ist eben viel günstiger, als jemanden fest anzustellen. Und wenn sich jemand über Überstunden oder das Arbeiten während harter Mittagssonne beschwert, droht man eben mit der Kündigung. Die Arbeiter haben keinerlei Garantien, manchmal werden die bezahlten Wochentage von den vereinbarten sieben auf vier Tage gekürzt. Ohne Grund. Gleichzeitig bestehen die Arbeitgeber darauf, dass alles erledigt werden müsse. Die Platzwärter haben oft zu tun bis spät in die Nacht. Und wie bei Amazon, gilt auch hier: Wer ausfällt, bekommt keinen Lohn. Von den Zeltplätzen machen sich im Spätsommer viele auf zur Zuckerrübenernte, und im Winter wartet der Versandhandel. Natürlich gibt es je nach Kontakten aber auch andere Saisonpläne: Wenn jemand beispielsweise eine Zusage bei einer Fastfoodkette hat oder einer Grillbude, bleibt er auch mal einige Wochen dort. Gerade in Gebieten mit viel Tourismus wird da immer mal wieder eine Aushilfe gebraucht, befristet auf einige Wochen oder wenige Monate. Und gerade die Rentner unter den Nomaden gelten als extrem zuverlässige Arbeiter.

"Die Lebensart der Arbeitsnomaden ist zusammengebrochen"

ZEIT ONLINE: Klingt, als fehle den Arbeitsnomaden jede Perspektive auf eine sichere Zukunft.

Bruder: Ja. Es gibt Fälle, da fährt jemand durch die ganze USA, weil ihm via Facebook-Nachricht, E-Mail oder Telefonanruf ein guter Job versprochen wurde. Man gibt das Geld aus für Benzin, Gas, Lebensmittel und fährt über Wochen diese irrsinnig weite Strecke, Tausende Kilometer. Und dann kommt man an und es heißt: Wir haben in diesem Jahr nicht so viel zu tun wie erwartet. Sorry, wir brauchen dich jetzt doch nicht. Mit diesem Risiko müssen die Leute rechnen. Gleichzeitig müssen sie mit dem Einkommen kalkulieren, das ihnen diese Jobs verschaffen. Schon das ist eine verzwickte Situation. Dazu sind die Arbeitsnomaden täglich mit existenziellen Fragen konfrontiert: Wo finde ich eine Toilette? Wie überzeuge ich Leute davon, ihre Dusche benutzen zu dürfen? Wo parke ich nachts mein Auto, ohne dass es Ärger gibt? Und wie mache ich das mit meiner Meldeadresse – ohne gibt es ja weder Rente noch Autoversicherung oder überhaupt einen Arbeitsvertrag. Trotz all dieser Umstände besaßen alle Leute, die ich getroffen habe, einen ungeheuren Optimismus und eine unglaubliche innere Stärke. Da ist zum Beispiel Linda, eine 70-jährige Frau, die einmal fast mit einem Öltanker zusammengestoßen wäre – sie hatte zwei Propangasflaschen an das Heck ihres Campers geschnallt. Für mich war das Horror. Sie hingegen? Hat nur mit den Schultern gezuckt und gelacht.

ZEIT ONLINE: Woraus ziehen diese Menschen ihre Zuversicht, spielt Religion eine Rolle?

Bruder: Religion wird oft in Zusammenhang mit Kirche und Theologie verstanden. Der Glaube der Menschen da draußen ist aber nicht an einen Gottesdienst oder an Rituale gebunden. Sondern an die Frage: Wo ist der Platz eines Menschen in der Welt? Die meisten Arbeitsnomaden ziehen eine Menge aus dem Unterwegssein in der Natur und aus den Verbindungen zu anderen Menschen, die sie unterwegs treffen. Daraus ergibt sich eine Art Urvertrauen in die Welt und in die eigene Zukunft. Es ist eine Art Hingabe in die Form der Lebensführung, die sie für sich selbst gewählt haben. Alle paar Stopps trifft man auf einem Parkplatz oder bei einem Job Leute wieder, denen man an einem völlig anderen Ort schon einmal begegnet ist. Dadurch ergibt sich eine Art Communitygefühl. Und fast so etwas wie Spiritualität: Die Nomaden vertrauen darauf, dass wir alle uns mehr als einmal begegnen. Diese Überzeugung nimmt sogar letzten Abschieden die Bitterkeit: Wenn jemand stirbt, weiß niemand genau, wann und wie man sich wiedersehen wird. Aber es wird passieren.

ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn die Leute nicht mehr Auto fahren können?

Bruder: Es gab Leute, die sagten, ihr langfristiger Zukunftsplan sei es, als ausgeblichener Knochenhaufen in der Wüste liegen zu bleiben. Ein paar andere träumen davon, irgendwo Land zu kaufen und sich niederzulassen. Aber wie denn? Dass sie genau dafür kein Geld hatten, trieb sie ja erst auf die Straße. Einige werden wohl wieder bei ihren Familien einziehen, wenn sie nicht mehr können – obwohl sie eigentlich nicht auf deren Hilfe angewiesen sein wollen. Es passiert immer wieder, dass Leute auf der Straße sterben, auf dem Weg zum nächsten Job. Einmal war ich ein paar Wochen lang mit einer Frau namens Swanky unterwegs. Sie interessierte sich für Kunst und zeichnete gerne. Auf dem Parkplatz trafen wir einen Mann, der hatte dasselbe Hobby. Swanky und er haben sich täglich getroffen und gegenseitig mit Gemälden beschenkt. Irgendwann kam er nicht mehr. Swanky machte sich Sorgen und ging ein paar Tage später zu seinem Wagen. Da waren Fliegen und Käfer überall – sie musste den Bestatter rufen.
Eine andere Frau meinte, sie verstehe die Städter nicht, die eingepfercht in einem Pflegeheim und vollgepumpt mit Medikamenten sterben. Da sei sie doch lieber unterwegs bis zum Ende. Ich glaube, die wenigsten Leute da draußen auf der Straße haben einen viel besseren Plan.

ZEIT ONLINE: Seit etwa einem Jahr wütet das Coronavirus.

Bruder: Die Lebensart der Arbeitsnomaden ist dadurch zusammengebrochen. Zum Beispiel haben alle Fitnessstudios geschlossen. Genau die waren aber eine beliebte Anlaufstelle, um sich einmal richtig zu duschen. Cafés bieten oft kostenloses W-Lan an, mobiles Netz haben die Nomaden nicht. Aber auch die Cafés sind schon lange dicht. Mit Grippe im Wohnwagen herumzuliegen, ist schon schlimm. Aber mit Corona? Wer bringt dich denn ins Krankenhaus, wenn der Verlauf sich schlagartig verschlechtert? Netzwerke wie Facebook bekamen durch Corona eine große Bedeutung, da tauscht man sich aus, vermittelt sich gegenseitig Jobs oder tauscht Alltagsgegenstände gegen Medikamente. Oder man sammelt sich als Kleingruppe auf Parkplätzen und passt aufeinander auf. Einige Nomaden machen Ausflüge nach Mexiko, dort kommen sie billiger an Medikamente – zurück in den USA teilen sie diese dann mit anderen. Zusammenhalt bedeutet für diese Leute gerade eine Überlebensgarantie.

ZEIT ONLINE: Was müsste sich ändern?

Bruder: Im Moment wird der Wert eines Menschen massiv durch seine Arbeitskraft definiert, bis ins hohe Alter. Der Mensch wird zu einer Ressource und die besitzt ökonomischen Wert. Die Arbeitsnomaden sind ein *******s Symptom dieses Systemdenkens. Statt uns als Gesellschaft zu fragen, ob wir das wollen, bezeichnen viele die Arbeitsnomaden als Obdachlose. Die Nomaden halten dagegen, sie seien nicht obdachlos – nur hauslos. Am Begriff Obdachlosigkeit klebt in den USA ein Stigma: Mit so jemandem muss doch irgendetwas nicht ganz richtig im Kopf sein. Oder vielleicht ist er abhängig von Drogen? Vielleicht ein Alkoholiker? In jedem Fall ein Vagabund! Solche Zuschreibungen und Stereotype trennen uns voneinander. Sie teilen die Welt ein, in zwei Fraktionen. Es gibt uns. Und es gibt die anderen. Das ist gefährlich – nicht nur in den USA. Corona zeigt, wie empfindlich es jeden von uns treffen kann, gerade wenn man nicht damit rechnet. Ich glaube, wir sollten uns ein Beispiel an den Nomaden nehmen. Mit wie viel Respekt diese Leute miteinander, aber auch mit Fremden umgehen – das ist vorbildhaft.
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