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Wieso glauben Menschen die idiotischsten Geschichten, Frau El Ouassil?
Zitat:
Klimapolitik
Wieso glauben Menschen die idiotischsten Geschichten, Frau El Ouassil?
Bestseller-Autorin Samira El Ouassil erklärt, wie Erzählungen unsere Wirtschafts- und Klimapolitik beeinflussen und Rechte damit Kulturkämpfe befeuern
Interview / Benedikt Narodoslawsky
26. Juli 2025, 09:01
US-Präsident Donald Trump fördert wieder Kohle, Öl und Gas, die EU-Kommission höhlt ihren Green Deal aus, in Österreich spart die Regierung vor allem beim Klima. Wohin man schaut, wird die Klimapolitik zurückgefahren. Warum?
Erzählungen würden "die größte transformative Kraft besitzen", heißt es im Bestseller Erzählende Affen. Die Publizistin Samira El Ouassil, die das Buch gemeinsam mit dem Journalisten Friedemann Karig 2022 veröffentlicht hat, erklärt darin, was in der Klimakommunikation falsch läuft.
STANDARD: Wie wichtig sind Erzählungen für uns Menschen?
El Ouassil: Extrem wichtig, weil wir in Geschichten denken. Sie helfen uns, überlebensnotwendige Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Erzählungen entscheiden also darüber, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen.

Samira El Ouassil beschäftigt sich in ihrem Bestseller "Erzählende Affen" damit, wie Geschichten unser Denken beeinflussen und warum Lügen von Rechtspopulisten erfolgreich sind.
Stefan Klüter
STANDARD: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Menschen unmenschliches Verhalten mit guten Geschichten rechtfertigen. Als Beispiel nennen Sie den Sklavenhandel in Afrika, den Portugal im 15. Jahrhundert vorantrieb. Wie konnte man sich das schönreden?
El Ouassil: Die Portugiesen haben der Außenwelt den Sklavenhandel als missionarische, menschenbefreiende Arbeit verkauft. Sie erklärten das In-Kontakt-bringen mit dem Christentum für moralisch richtig, von Gott gewollt. Dadurch hat man plötzlich die Unterdrückung, Ausbeutung und Entmenschlichung schwarzer Menschen mit einer moralisch-religiösen Aufladung so umgepolt, dass die Unterdrücker das Gefühl hatten, sie machen das Richtige. Solche Geschichten werden benutzt, um Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen und zu verteidigen. In größer werdenden Gesellschaften muss man Menschen schließlich nachvollziehbar erklären, warum jemand an der Spitze in der sozialen Hierarchie steht. Und warum andere unten sind, die für die anderen arbeiten müssen.
STANDARD: Welche Erzählung erklärt uns das heute?
El Ouassil: Die Erzählung der Meritokratie, also die Idee, dass jeder seines Glückes Schmied sein kann, dass jeder den sozialen Aufstieg schafft, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Diese Erzählung ist attraktiv, denn sie ist scheinbar gerecht. Wir wissen aber aus der Soziologie und der Volkswirtschaft, dass sie ein Märchen ist. Doch die Hoffnung auf den Aufstieg hält die Produktivität der Menschen aufrecht und das kapitalistische System am Laufen.
STANDARD: Wo ist das Problem?
El Ouassil: Die Erzählung legitimiert gleichzeitig, arme Menschen schlecht zu behandeln. Denn sie behauptet, Menschen seien selbst schuld, wenn sie am unteren Ende der sozialen Hierarchie sind. Dass sie Sozialhilfe empfangen oder arbeitslos sind, liege also an ihrer charakterlichen Schwäche, weil sie faul und nicht anständig seien.

Samira El Ouassil, Friedemann Karig: "Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen". 544 Seiten / Euro 15,50. Ullstein 2022
Ullstein Verlag
STANDARD: In Ihrem Buch kritisieren Sie die "Wirtschaftsgläubigkeit" und "Wachstumsideologien". Halten Sie den politischen Leitspruch "Nur wenn die Wirtschaft wächst, kann es uns gut gehen!" auch nur für eine Erzählung?
El Ouassil: Absolut. Diese kapitalistische Erzählung prägt unsere Gesellschaft tiefgreifend. Durch die Vorstellung, dass Mehr immer gut sei, haben wir keine Sensibilität für das Gemeingut entwickelt. Wir sind unfähig, langfristig vernünftige Entscheidungen zu treffen, weil wir kurzfristige Vorteile zugunsten des Einzelnen bevorzugen. Das hat unter anderem zur Klimakrise geführt – die sich übrigens schlecht erzählen lässt.
STANDARD: Warum?
El Ouassil: In der Klimakrise müssen wir verhindern, dass es schlimmer wird. Das Happy End ist im Grunde genommen das Ausbleiben einer Katastrophe. Das ist das schlechteste Pseudo-Happy-End, das wir uns vorstellen können.
STANDARD: Reicht als Erzählung, dass die Klimakrise zu immer mehr Katastrophen führt, nicht aus?
El Ouassil: Den Zusammenhang, dass der menschengemachte Klimawandel Naturkatastrophen häufiger macht, können wir vielleicht intellektuell verstehen. Aber wir fühlen ihn noch nicht, deshalb erschließt sich uns die Erzählung auch nicht. Außerdem fehlen im Gegensatz zu den zahlreichen "Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Geschichten in der Klimakrise die Figuren, mit denen wir eine Heldenreise erzählen können. Auch der Antagonist fehlt, an dem wir alle negativen Folgen der Klimakrise festmachen können. Denn wir sind alle zusammen dafür verantwortlich. Diese Erzählung, dass wir unser eigener Feind sind, können wir nur sehr schwer verstehen.
STANDARD: In der Klimapolitik erleben wir gerade Rückschritt um Rückschritt. Wieso ist die Erzählung "Die Klimapolitik gefährdet die Wirtschaft" stärker als “Die Klimakrise gefährdet die Menschheit"?
El Ouassil: Es geht immer um das Empfinden einer subjektiven Gerechtigkeit. Deswegen reagieren wir so gut auf Geschichten, die uns das Gefühl geben, dass es in Ordnung ist, wie wir sind und was wir haben. Durch die politische Erzählung "Wir dürfen den Wohlstand nicht gefährden" bekommen wir den Eindruck, dass ein Feind um die Ecke kommt, der uns wegnehmen will, was wir uns hart erarbeitet haben. Und zwar im Austausch für ein kaum greifbares Ziel, nämlich die Nicht-Verschlimmerung der Welt. Wohlstand dafür aufzugeben empfinden wir als ungerecht. Deswegen gibt es so einen großen Widerstand bei allen Verzichtsdiskursen. Und deswegen führt eine reaktionäre Politik auch gern die Grünen immer als die Verbotsmenschen ins Feld, weil genau das im Kulturkampf triggert.
STANDARD: Ist der Spruch "Es gibt keine Wirtschaft auf einem toten Planeten", den Klimaaktivisten auf ihre Plakate pinseln, nicht griffig genug?
El Ouassil: Er ist zeitlich zu weit weg. Es ist gut erforscht, dass wir im Vergleich zu kurzfristigen Gewinnen und Verlusten langfristige nicht gut einschätzen können. Dass die Verluste in Zukunft viel höher sein werden und wir auf viel mehr verzichten müssen, wenn wir jetzt nicht ausreichend handeln, ist es eine überlebensnotwendige Erkenntnis, welche die Grenzen einer Erzählbarkeit erreicht. Die Konservativen arbeiten hingegen mit der Furchterzählung, es drohe eine miserable Existenz ohne Komfort und Luxus. Gegen diese Zukunftserzählung wirkt unser Jetzt plötzlich wahnsinnig attraktiv.

FriedemannKarig und Samira El Ouassil haben 2022 das Buch "Erzählende Affen" über wirkmächtige Narrative geschrieben und gestalten gemeinsam den Politik-Podcast "Piratensender Powerplay".
NILS SCHWARZ
STANDARD: Die menschengemachte Klimakrise ist wissenschaftlich unumstritten. Die FPÖ oder AfD leugnen sie trotzdem. Warum glauben viele Menschen den Rechtspopulisten mehr als der Wissenschaft?
El Ouassil: Bei Erzählungen gilt die Regel: Kultur schlägt Fakten. Was gut für unseren Stamm und die Verteidigung der eigenen Identität ist, ist also wichtiger als die Wahrhaftigkeit der Information. Dazu kommt der Confirmation Bias, der Bestätigungsfehler. Alle Informationen, die gut für einen selbst oder den eigenen Stamm sind, werden akzeptiert und verteidigt. Alle, die den eigenen Vorstellungen, Werten und Erzählungen widersprechen, werden hingegen als falsch, unwahr oder manipulativ heruntergemacht.
STANDARD: Verschwörungstheoretiker erzählen, nicht die Klimakrise, sondern böse Mächte hätten mit einer Wettermaschine absichtlich die tödliche Sturzflut in Texas erzeugt. Wieso glauben manche Menschen selbst solche idiotischen Geschichten?
El Ouassil: Weil sie ihnen eine Überlebenssicherheit geben. Informationen, die von dem abweichen, woran wir glauben, wirken für uns rein neurologisch so furchteinflößend wie eine Attacke in freier Natur. Unser Hirn reagiert also tatsächlich gleich auf ein Raubtier, das im Wald auf uns zuläuft, wie darauf, wenn wir etwas im Internet lesen, das unsere Moral oder unsere Identität infrage stellt: Unsere Amygdala wird aktiviert, es wird Adrenalin und Cortisol freigesetzt, wir sind gestresst und leisten Widerstand, weil wir Angst vor dieser Information haben. Das erklärt, warum Menschen manche Diskussionen so aggressiv und hitzig führen, insbesondere online. Wenn jemand kommt und sagt: "Die Grundlage, auf der du existierst, ist falsch!" entsteht ein Schmerz, der für viele schwer zu ertragen ist. Deshalb entsteht eine große Wut auf den Boten dieser Information, der diesen Schmerz erzeugt. Die Menschen kämpfen dann miteinander tatsächlich innerlich ums Überleben.
STANDARD: Kann man Verschwörungstheoretiker für den Kampf gegen die Klimakrise überhaupt noch erreichen?
El Ouassil: Wir können unsere Überzeugungen ändern, wenn die Erzählung unsere Existenz legitimiert und uns nicht bedroht. Die Verteidigung unserer Lebensressourcen ist ja nichts Ideologisches, sondern etwas Logisches. Man kann also im Kampf gegen die Klimakrise für jede politische Ausrichtung eine Erzählung finden, auf die Menschen nicht mit Widerstand reagieren. Für Konservative, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, ist es ein Kampf, um die Natur zu bewahren. Für Sozialdemokraten ein Kampf für Gerechtigkeit, denn vulnerable Gruppen trifft die Klimakrise härter als reiche Menschen. Und für Liberale ein Kampf für die Freiheit: Menschen sollen sich ja auch in Zukunft noch selbst entfalten können, anstatt in bürgerkriegsähnlichen Zuständen um Ressourcen zu kämpfen. Wir müssen also bessere Geschichten übers Klima erzählen und dürfen uns die Deutungshoheit nicht wegnehmen lassen von einer fossilen Industrie, die seit Jahrzehnten an fossilen Narrativen arbeitet wie "Fahren ist gleich Freiheit!" oder "Konservativ sein bedeutet, Fleisch zu essen!".
STANDARD: Sie regen in Ihrem Buch einen "Green Narrative New Deal" an. Was könnte der leisten?
El Ouassil: Erzählungen, die uns ins Handeln bringen. Die Warnungen und Furcht-Appelle, die wir bis jetzt hatten, sind zwar notwendig, aber können uns auch ohnmächtig machen. Eine emotional intelligente Kommunikation kombiniert die Aufklärung mit dem Stiften von Hoffnung. Wir brauchen einen informierten Optimismus, damit wir uns vorstellen können, dass wir es schaffen können. Statt Angst und Verzicht soll uns der Green Narrative New Deal Lust auf die Zukunft machen. Er soll Werte wie Gerechtigkeit oder Lebensqualität vermitteln, also eine schönere, fairere Welt für alle. (Benedikt Narodoslawsky, 26.7.2025)
Zitat:
Samira El Ouassil, geboren 1984, ist Autorin, Podcasterin, Schauspielerin und Musikerin. Sie studierte Kommunikationswissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in München und ist Online-Kolumnistin für das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel. Ihr Bestseller Erzählende Affen, den sie mit dem Journalisten Friedemann Karig schrieb, war für den deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert.
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Eine interessante Beleuchtung, wie ich finde.
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