Ich bin vor ein paar Jahren mal auf ein - natürlich rein fiktives - Interview mit einem Zeitreisenden gestoßen. Ich fand es höchst faszinierend, da es uns aufzeigt, wie willkürlich viele für uns selbstverständliche Dinge sind, und ebenfalls andeutet, wie schwierig es sein könnte, sich mit einer Außerirdischen Rasse zu verständigen. Daher habe ich es auf meiner Platte abgelegt. Also, hier das Interview:
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Interviewer: Guten Tag, Zeitreisender...
Zeitreisender: Wie bitte?
Interviewer: Ich habe sie in der Art begrüsst, die in unserer Zeit üblich ist.
Zeitreisender: Ach so. Ich möchte Sie natürlich auch begrüssen, wenn dieses Ritual bei Ihnen üblich ist. Bitte verzeihen Sie meine erste Reaktion: Ich verstehe und spreche zwar Ihre Sprache, als ob es meine eigene wäre, doch die Bedeutung vieler ihrer Begriffe ist mir indes völlig unzugänglich.
Interviewer: Kein Problem.
Zeitreisender: Was auch immer das heissen mag...
Interviewer: Darf ich Ihnen einige Fragen stellen? Es gibt einige Dinge über Sie, die ich unbedingt fragen möchte...
Zeitreisender: Nur zu.
Interviewer: Meine erste Frage an Sie wäre: aus welcher Zeit stammen Sie?
Zeitreisender: (irritiert) Aus meiner eigenen natürlich.
Interviewer: Natürlich, klar. Ich meine damit, wie verhält sich diese Zeit im Vergleich zur meinen? Wieviele Jahre trennen uns?
Zeitreisender: Um Ihre Frage zu beantworten, müssten Sie vielleicht erst einmal den Begriff "Jahre" definieren.
Interviewer: Sie wissen nicht, was ein Jahr ist? Das ist die Zeit, die die Erde braucht, um die Sonne einmal zu umkreisen
Zeitreisender: Ich nehme an, die "Erde" und die "Sonne" beschreiben massige Objekte, die sich umkreisen?
Interviewer: Äh, ja. Sagt Ihnen der Begriff "Erde" nichts?
Zeitreisender: (schulterzuckend) Nicht direkt. Mir ist kein massiges Objekt bekannt, das diese Bezeichnung tragen würde. Aber sehen Sie, bei all den Objekten, die wir kennen, und all den Namen, die sie in den verschiedensten Sprachen tragen, da kann es schon sein, dass ein Objekt darunter ist, das in einer bestimmten Sprache so genannt wird. Hat dieses Objekt denn eine besondere Bedeutung für Sie?
Interviewer: Natürlich. Es ist der Planet, auf dem wir leben.
Zeitreisender: Planet, wieder so ein Wort... Sie sagen also, sie leben auf einem massigen Objekt namens Erde, das ein anderes Objekt namens "Sonne" umkreist? Und die Zeitspanne, die es dafür benötigt, nennen Sie ein Jahr?
Interviewer: Ja, korrekt. Ich bin erstaunt, dass Sie weder die Erde noch die Sonne kennen. Weiss man in der fernen Zukunft denn nicht, wo sich die Menschheit entwickelt hat?
Zeitreisender: Hui, etwas langsamer bitte, ich komme sonst nicht nach. Wie ich schon sagte, es gibt eine grosse Menge von Welten, die bewohnt sind, ich würde sagen, ihre Anzahl im überschaubaren Bereich des Universums geht in die Milliarden. Da ist es nicht besonders erstaunlich, dass wir diese eine Welt, auf der Sie leben, nicht kennen, nicht wahr? Und dann waren da die Begriffe "Zukunft" und "Menschheit" - könnten Sie diese für mich erläutern?
Interviewer: Nun, die Zukunft ist die Zeit, die noch kommen wird. Von mir aus gesehen, die Zeit, in der Sie leben. Die Menschheit...
Zeitreisender: Moment mal. Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Ich möchte nur sicherstellen, dass ich Sie richtig verstehe. Sie wissen, in welcher Zeit ich lebe? Warum haben Sie mich denn vorhin danach gefragt?
Interviewer: Nein, nein, der Begriff "Zukunft" umschreibt für uns ganz allgemein die Zeit, die noch kommt, vom jetzigen Moment an bis in alle Ewigkeit...
Zeitreisender: (nickt) Ich verstehe, und ich werde Sie jetzt nicht nach dem Begriff "Ewigkeit" fragen. Sie wollten mir noch den Begriff "Menschheit" erklären...
Interviewer: Die Gesamtheit aller Menschen, die es gibt.
Zeitreisender: Und wer sind die Menschen, bitte? Bezeichnen Sie damit eventuell sich selbst?
Interviewer: Ja, mich selbst, und alle, die so sind wie ich. Sind Sie denn kein Mensch?
Zeitreisender: Das kann ich nicht beantworten, ohne genau zu wissen, was dieser Begriff umschreibt. Ich wende diesen Begriff allerdings nicht auf mich selbst an.
Interviewer: Wie nennen Sie sich denn selbst?
Zeitreisender: Mein Name ist Iyiad Alin. Ich bin ein Iyiad, der auch ein Alin ist. Verstehen Sie das?
Interviewer: Nein, aber lassen wir das. Kommen wir zurück zu meiner ursprünglichen Frage: In welcher Zeit leben Sie? Gibt es einen Weg, dies herauszufinden? Wir müssten uns vielleicht auf ein einmaliges Ereignis beziehen und dann unsere individuelle Position in der Zeitlinie relativ dazu in derselben Einheit ausdrücken. Die Differenz wäre dann die Zeit, die zwischen uns liegt.
Zeitreisender: Eine gute Idee. Ich denke, der Beginn der Zeit ist ein solches Ereignis. Wieviele ihrer Jahre ist ihre Zeit davon entfernt?
Interviewer: Ähm, Sie meinen damit den Urknall? Nun, unsere Wissenschaftler sagen, wir leben rund 13,7 Milliarden Jahre danach.
Zeitreisender: Hm... das heisst, mal angenommen, Ihre Erde hätte seit dann bestanden, dann hiesse das, dass sie in der Zwischenzeit 13,7 Milliarden Umkreisungen des massiven Objekts "Sonne" durchgeführt. Wenn ich nun die Masse dieser "Sonne" wüsste, wäre ich in der Lage, die Dauer eines ihrer Jahre auszurechnen. Wie massiv ist denn die "Sonne"? Ist sie ähnlich massiv wie die "Erde"?
Interviewer: Nein, natürlich nicht. Die Erde ist viel weniger massiv. Die Sonne ist der Stern, den die Erde umkreist. (Schaut nach) Sie ist etwa 2 Billiarden Billiarden Kilogramm schwer.
Zeitreisender: Jetzt müssen Sie mir nur noch sagen, wieviel ein Kilogramm ist.
Interviewer: Ein Kilogramm... nun... Ein Mensch wiegt etwa 70 Kilogramm...
Zeitreisender: Das nützt mir nicht viel...
Interviewer: Ein Liter Wasser ist ein Kilogramm schwer. Ja, ja, ich weiss. Ein Liter ist ein Volumen von jeweils einem Zehntel Meter Kantenlänge. Was Wasser ist, dürften Sie doch wissen, nicht wahr?
Zeitreisender: Ja, ich verstehe den Begriff Wasser. Aber was ist bitte ein Meter?
Interviewer: (Schaut nach) Ein Meter ist ein 299792458stel der Geschwindigkeit des Lichtes im Vakuum.
Zeitreisender: Ah, jetzt kommen wir der Sache näher. In welcher Einheit drücken Sie denn die Geschwindigkeit des Lichtes aus?
Interviewer: In Meter pro Sekunde... Warten sie, ich weiss. Das Licht legt genau ein Lichtjahr pro Jahr zurück.
Zeitreisender: Jetzt sind wir auf der Zielgeraden, hoffe ich. Können Sie mir die Einheit Lichtjahr an einem massiven Objekt demonstrieren?
Interviewer: (Nach längerem Überlegen) Unsere Galaxis, als der lokale Haufen von Sternen, Gas und Staub, hat etwa 100000 Lichtjahre Durchmesser.
Zeitreisender: Gut, das reicht. Einen Moment... nun, wir leben ungefähr in derselben Zeit.
Interviewer: Wie bitte?
Zeitreisender: Sie haben mir die Zeit seit dem "Urknall" als 13,7 Milliarden Jahre angegeben. Aus dieser Angabe schliesse ich, dass Sie diesen Wert nicht genauer kennen, das heisst, der Wert könnte Schwankungen von zwischen 13,65 und 13,74 Milliarden Jahren bedeuten. Das sind immerhin 90 Millionen Jahre. Im Rahmen dieser Genauigkeit kann ich nach meiner Rechnung nur sagen, dass wir in demselben Zeitintervall leben.
Interviewer: Na toll... Gut, immerhin, dann kann ich davon ausgehen, dass es die Menschheit zumindest noch zumindest etwa 45 Millionen Jahre geben wird, oder so. Nun, da wir uns bezüglich der Einheiten verstehen, können wir vielleicht einige andere Fragen versuchen?
Zeitreisender: Natürlich.
Interviewer: Können Sie mir das Universum, aus dem Sie kommen, beschreiben? Ich meine insbesondere die vielen bewohnten Objekte, die Sie vorher angesprochen haben.
Zeitreisender: Nun, wie gesagt, es gibt viele Milliarden davon, und sie werden von unzähligen intelligenten Lebewesen bewohnt.
Interviewer: Sind sie alle von Menschen bewohnt? Ich meine, warten Sie, ich weiss, Sie kennen den Begriff Mensch nicht... hm, sind sie alle von intelligenten Lebewesen wie Ihnen bewohnt?
Zeitreisender: Sagte ich das nicht gerade?
Interviewer: (Überlegt) Ich meine folgendes. Sind sich diese intelligenten Lebewesen äusserlich ähnlich? Gehören sie alle derselben biologischen Spezies an?
Zeitreisender: Nein, diese intelligenten Lebewesen sind grundverschieden voneinander. Jedes ist einzigartig.
Interviewer: Natürlich. Aber haben sie auch Gemeinsamkeiten?
Zeitreisender: Ja. sie teilen sich zum Beispiel das massige Objekt, auf dem sie wohnen. Sie kommunizieren miteinander. Sie existieren. Sie...
Interviewer: Gut, warten Sie, eine andere Frage. Stammen alle diese Wesen ursprünglich vom selben massigen objekt, sagen wir mal, vom selben Planeten ab? Oder gibt es in Ihrer Welt auch Lebewesen, die sich auf anderen Planeten als der Erde entwickelt haben?
Zeitreisender: (Lacht) Wie bitte? Sie glauben im Ernst, dass das Leben auf ihren kleinen lokalen "Planeten", wie Sie es nennen, beschränkt ist? Bitte entschuldigen Sie, aber das ein sehr eingeschränktes Denken. Natürlich hat sich Leben auf Millionen von "Planeten" entwickelt. Und natürlich stammen einige der intelligenten Lebewesen vom einen, andere vom anderen "Planeten" ab.
Interviewer: Das heisst, die Menschheit steht im Kontakt mit Ausserirdischen?
Zeitreisender: Wenn sie mit "Ausserirdische" intelligente Lebewesen meinen, die von anderen Planeten als der Erde stammen, dann ja, natürlich. Wobei, wie gesagt, ich weiss noch immer nicht, was sie mit "Menschheit" genau meinen. Ich kann Ihnen bei all den Lebewesen nicht sicher sagen, ob darunter auch eine Gruppe ist, die Ihnen gleicht.
Interviewer: Das ist Schade. Es wäre sehr interessant, etwas über die Zukunft der Menschheit zu wissen.
Zeitreisender: Wir können versuchen, Ihre "Erde" mit einem mir bekannten Objekt zu identifizieren, dann kann ich Ihnen vielleicht auch sagen, was mit den Mitgliedern ihrer biologischen Spezies geschehen ist.
Interviewer: Einverstanden. Nun, die Erde ist der dritte Planet eines Sterns, der sich etwa 30000 Lichtjahre vom Zentrum der Galaxis entfernt befindet. Es gibt keinen weiteren Stern in unserem System.
Zeitreisender: Wenn ich die Masse Ihres Sterns, die sie mir vorher genannt haben, in Betracht ziehe, sowie diese Entfernungsangabe, dann erhalte ich etwa hundert Millionen Sterne, die in Frage kommen. Sie müssen mir noch etwas genauere Angaben geben.
Interviewer: (Seufzt) Das wird schwierig. Ich könnte Ihnen ein Bild einer Plakette zeigen, die auf einer unserer Raumsonden aufgebracht wurde. Darauf sind Pulsarfrequenzen zu sehen, anhand der man die Erde identifizieren könnte. Möglicherweise können Sie so auch die Zeit eingrenzen, in der wir leben.
Zeitreisender: Ja, zeigen Sie mir dieses Bild.
Interviewer: (zeigt das Bild) Und?
Zeitreisender: Bitte warten Sie einen Moment, ich muss diese Daten verarbeiten. Ja, ja, gut. Hm, erstaunlich. Interessant.
Interviewer: Was ist interessant?
Zeitreisender: Ich konnte Ihr System identifizieren. Ich habe ihre Angaben in eine grosse Datenbank, wie sie es wohl bezeichnen würden, eingegeben und konnte so einiges über Ihren "Planeten" in Erfahrung bringen. Ich kann Ihnen nicht allzuviel sagen, aber ich kann Ihnen sagen, dass ihr Planet zu der Zeit, in der ich lebe, keine intelligente Zivilisation beherbergt. Zudem kann ich jetzt sagen, dass uns eine Zeit von fast 10 Millionen Jahren trennt.
Interviewer: Zehn Millionen Jahre! Das ist beeindruckend. Aber Sie sagen, der Planet Erde ist zu Ihrer Zeit nicht von einer intelligenten Zivilisation bewohnt?
Zeitreisender: Nein. Es gibt eine sehr aktive Biosphäre, aber der Planet zeigt keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit einer Zivilisation.
Interviewer: Vielleicht erkennen Sie die Zivilisation nicht als solche. Gibt es denn keine indirekten Anzeichen, wie etwa die Lichter von Städten auf der Nachtseite des Planeten? Künstliche Satelliten im Orbit?
Zeitreisender: Nein, tut mir leid. Keine. Vielleicht meinen wir doch nicht das gleiche System. Sind Sie sicher, dass die Angaben, die sich auf dieser Plakette befinden, korrekt sind?
Interviewer: Ich denke schon. Wie sieht es denn auf den anderen Planeten des Systems aus?
Zeitreisender: Auch hier findet sich nichts. Keine Anzeichen von intelligenten Lebewesen.
Interviewer: Sehr seltsam. Halten Sie es für möglich, dass die Menschheit der fernen Zukunft die Erde und das Sonnensystem verlassen hat?
Zeitreisender: Das ist durchaus möglich. Es gibt einige Beispiele der galaktischen Geschichte, in der sich solche Dinge abgespielt haben. Die meisten intelligenten Lebewesen bringen es allerdings schon gar nicht soweit. Sie sterben lange vorher aus, bevor sie in der Lage sind, ihr Sternsystem zu verlassen.
Interviewer: Sie denken, es wäre möglich, dass der Menschheit dasselbe widerfahren ist?
Zeitreisender: Wie gesagt, gut möglich. Aber entschuldigen Sie mich bitte. Ich brauche eine Pause. Ist es Ihnen recht, wenn wir dieses Gespräch unterbrechen und in, sagen wir mal, einem fünfzigstel Ihrer Jahre weiter fortsetzen?
Interviewer: Natürlich. Danke vielmals für das bisherige Gespräch.
Fortsetzung
Interviewer: Schön, dass Sie Zeit finden, unser Gespräch fortzusetzen.
Zeitreisender: Zeit finden? Wieder einer dieser seltsamen Ausdrücke. Und um ihre Feststellung aufzugreifen, ja, es hat ein bisschen länger gedauert. Wir hatten zu tun.
Interviewer: Wir?
Zeitreisender: Die Gemeinschaft, in der ich lebe. Wir traten in Kontakt mit einer neuen Lebensform, dies ist immer mit einem grossen Zeitaufwand verbunden.
Interviewer: Sie meinen, die Menschheit ihrer Zeit hat soeben einen neuen Kontakt mit einer ausserirdischen Lebensform geknüpft?
Zeitreisender: Langsam bitte, ich kann mich oder meine Gemeinschaft noch immer nicht mit dem Begriff "Menschheit" in Verbindung setzen, es könnte also sein, dass wir uns dahingehend missverstehen. Und ja, wir haben soeben Kontakt mit einer neuen Systemzivilisation geknüpft.
Interviewer: Faszinierend. Können sie uns diese Lebensform beschreiben?
Zeitreisender: Ich bin ein bisschen unsicher, was als Antwort auf diese Frage hören möchten.
Interviewer: Nun, irgend eine Beschreibung. Wie sehen diese Ausserirdischen aus? Im sichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums, meine ich.
Zeitreisender: Wenn sie mir nun sagen könnten, welcher Teil des elektromagnetischen Spektrums für ihre Spezies "sichtbar" ist...
Interviewer: (sieht nach) Nun, es ist der Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer Wellenlänge. Ein Nanometer ist ein Milliardstel eines Meters...
Zeitreisender: ...dessen Länge wir schon in unserem letzten Gespräch herausgefunden habe. Nun gut, in diesem Bereich gesehen sind unsere neuen Gemeinschaftsmitglieder dunkelgrün. Sie sind etwa sechs Meter hoch und eineinhalb Meter breit, wenn man ihre Familien vernachlässigt.
Interviewer: Sechs Meter hohe Riesen?
Zeitreisender: Ich erinnere Sie daran, dass diese Wesen keine äusserliche Ähnlichkeiten mit Ihnen teilen. Wenn ich sie mit Lebewesen von Ihrem Planeten vergleichen müsste, dann am ehesten... mit einem Baum. Oder vielleicht, einer Stabheuschrecke. Oder einer Schlange, das passt auch. Natürlich nur, ohne ihre Familien zu berücksichtigen. Täte man das, müsste man schon eher von einem Pilz sprechen.
Interviewer: Ich kann es mir immer noch nicht so richtig vorstellen, aber danke. Sie sagten, diese Spezies gehöre nun zu ihrer Gemeinschaft. Welche Bedingungen muss man denn erfüllen, um in ihrer Gemeinschaft aufgenommen zu werden?
Zeitreisender: Keine. Man muss nur wollen.
Interviewer: Wie? Heisst das, sie nehmen nur Individuen auf, keine ganzen Welten? Könnte ich Mitglied ihrer Gemeinschaft werden?
Zeitreisender: Nein, wir nehmen keine Welten auf. Nur Individuen. Wenn Sie wollen, ja, natürlich auch Sie. Ist denn das so schwierig zu verstehen?
Interviewer: Nun, in unserer Literatur... in Geschichten, die wir schreiben... da ist der Beitritt zu solchen Gemeinschaften von fortschrittlichen Zivilisationen nur dann möglich, wenn gewisse Dinge vorhanden sind. Etwa, wenn es keine Kriege auf dem Heimatplaneten mehr gibt. Wenn der Hunger beseitigt ist. Wenn alle Mitglieder der Spezies in Wohlstand leben, wenn...
Zeitreisender: Moment. Merken Sie nicht, wie sehr sich ihre Vorstellungen diesbezüglich auf ihre Wünsche bezüglich ihrer eigenen Spezies stützen? Andere intelligente Lebensformen kennen vermutlich "Krieg" nicht, ebensowenig wie "Hunger", und möglicherweise können sie auch mit dem Begriff "Wohlstand" nichts anfangen. Da alle Gemeinschaftsmitglieder in allen Galaxien sich stark voneinander unterscheiden, könnten wir uns nie auf solche Aufnahmekriterien, wie Sie sie vorschlagen, einigen. Deshalb gibt es keine Kriterien. Wer zu uns stossen will, der kann, wer nicht will, der muss nicht.
Interviewer: Interessant. Kann die Menschheit, oder besser gesagt, ihre Individuen, auch beitreten? Gleich morgen, sagen wir?
Zeitreisender: Natürlich. Sie sind also noch nicht Teil der Gemeinschaft, sagen Sie? In diesem Fall müssen sie einfach die nächsten Vertreter unserer Gemeinschaft finden.
Interviewer: Diese befinden sich, nehme ich an, tausende von Lichtjahren entfernt...
Zeitreisender: Nein, nein. In ihrem Sternsystem gibt es bereits Milliarden von Gemeinschaftsmitgliedern.
Interviewer: Wie bitte? Ich dachte, die Erde sei unbewohnt in Ihrer Zeit.
Zeitreisender: Das ist sie auch.
Interviewer: Aber wo befinden sich denn all die Gemeinschaftsmitglieder?
Zeitreisender: "Wo"? Nun, aus ihrer Sicht, im Netz. Im Netz, das, aus ihrer Sicht, ihr Sternsystem umgibt, genauso wie andere Netze Milliarden von anderen Sternen umgeben. Gehen sie zum nächsten Netzwerkknoten, und sie können Teil der Gemeinschaft werden.
Interviewer: "Im Netz"? Sie existieren also "virtuell"? Wodurch wird dieses Netz gebildet? Aus unserer Sicht, meine ich.
Zeitreisender: Ja, im Netz. Und ja, sie würden unsere Existenz - unnötigerweise - als virtuell bezeichnen. Es ist für uns viel realer als für Sie die sogenannte "Realität". Ihre Realität ist bloss der Rahmen, das Fundament eines gigantischen Hauses, um mal mit einer ihrer Metaphern zu sprechen. Die mich übrigens sehr faszinieren, aber dazu ein anderes Mal mehr. Das Haus ist die Gemeinschaft - Zivilisationen aus dem Fundament, so wie sie, stossen ab und zu zu uns. Die meisten jedoch, wie ich schon das letzte Mal sagte, erreichen nie die Möglichkeit, zu uns zu stossen. Einige aus der Gemeinschaft haben es sich zur Aufgabe gemacht, neuen Zivilisationen dabei zu helfen, die Gemeinschaft zu erreichen. Aber dies ist innerhalb der Gemeinschaft nicht unumstritten. Wir denken... aber gut, ich will sie nicht mit politischen Dingen langweilen - sie wären ohnehin zu kompliziert, um sie in einer einigermassen sinnvollen Form auf Ihr Niveau herunterzubrechen. Und da war noch eine letzte Frage: Dieses Netz wird, wie ich schon sagte, aus Netzwerkknoten gebildet. Diese treiben im Raum, etwa in einer Umlaufbahn um einen Stern. Die Netzwerkknoten im ganzen Universum stehen miteinandern in Kontakt und tauschen regelmässig Daten, oder auch gleich ganze Individuen aus.
Interviewer: Wie gross sind denn diese Netzwerkknoten?
Zeitreisender: Etwa einen ihrer Meter.
Interviewer: Und wieviele gibt es davon?
Zeitreisender: Einige Milliarden im Orbit um jeden Stern.
Interviewer: Faszinierend. Nun, ich werde versuchen, alles in Gang zu setzen, um einen solchen Netzwerkknoten zu erreichen. Können Sie mir sagen, wo wir den nächsten - zur Erde - finden können?
Zeitreisender: Das dürfte nicht allzu schwierig sein, allerdings, wie gesagt, uns trennen 10 Millionen Jahre, und in dieser Zeit kann viel passieren, viel passiert sein. Suchen sie einfach in ihrem System, die meisten Netzwerkknoten sind etwa 550 mal weiter von Ihrer Sonne entfernt als Ihre Erde, manchmal kommen sie sogar noch näher.
Interviewer: Und wie läuft die Aufnahme in die Gemeinschaft ab?
Zeitreisender: Wir übertragen die Persönlichkeit der Individuen, die der Gemeinschaft beitreten wollen, natürlich einschliesslich ihrer Ich-Perspektive, auf den Netzwerkknoten. Von dort können sie dann die ganze Welt der Gemeinschaft erkunden, wenn sie wollen, was in der Regel einige Milliarden Jahre Zeit beansprucht.
Interviewer: Was geschieht mit den zurück bleibenden Körpern?
Zeitreisender: Sie meinen, mit den physischen Hüllen ihrer Individuen aus dem Fundament? Nun, meistens verwenden wir sie, um weitere Netzwerkknoten zu bauen. Die Ankunft einer neuen Zivilisation in der Gemeinschaft ist meist mit einem grossen Andrang an den Netzwerkknoten verbunden, da ist der Bau von einigen Millionen neuen Knoten gerechtfertigt. Ein solches Ereignis war es ja auch, das mich bedauerlicherweise davon abgehalten hat, unseren Termin einzuhalten. Ich war neugierig auf die Neuankömmlinge und habe meine Prioritäten entsprechend gesetzt.
Interviewer: Noch einmal zu den 10 Millionen Jahren. Mir ist in der Zwischenzeit etwas in den Sinn gekommen, wie wir heraus finden könnten, ob Sie in unserer Vergangenheit oder in unserer Zukunft leben. Ich habe mit einigen Geologen gesprochen, und sie haben mit zwei Bilder mitgegeben, eines, das die Lage unserer Kontinente so zeigt, wie sie vor 10 Millionen Jahren aussahen, und eines, dass sie so zeigt, wie sie in 10 Millionen Jahren aussehen werden.
Zeitreisender: Interessant. Nun, anhand dieser Bilder und nach einem Vergleich mit unseren Bildern von der Erde der Gegenwart würde ich sagen, dass Sie 10 Millionen Jahre in meiner Zukunft leben. Aber das hätte ich Ihnen schon vorher sagen können.
Interviewer: Tatsächlich?
Zeitreisender: Ja, natürlich - die Pulsarfrequenzen, die sie mir gegeben haben, machen nur dann Sinn. Diese Pulsare sind nur einige tausend Jahre alt, 10 Millionen Jahre vor Ihrer Zeit kann es sie noch nicht gegeben haben - aber es gibt ihre Vorläufersterne. Aus deren Bahnen und Massen haben wir die Position der Pulsare, 10 Millionen Jahre in die Zukunft extrapoliert, und sind so auf ihre Pulsarfrequenzen gekommen.
Interviewer: Sie können das Verhalten von Sternen, inklusive der Bewegung und der Rotationsfrequenzen der Pulsare, die daraus entstehen, 10 Millionen Jahre in die Zukunft extrapolieren?
Zeitreisender: Warum nicht? Ist das erstaunlich?
Interviewer: Ich hätte gedacht, dass da chaotische, zufällige Prozesse überwiegen würden, die eine so genaue Vorhersage der Zukunft unmöglich machen.
Zeitreisender: Ich verstehe den Begriff "Zufall" nicht.
Interviewer: Nun, hm... etwas, das geschieht, ohne dass es dafür eine vorhersehbare Ursache gibt.
Zeitreisender: Ein seltsames Konzept. Interessant, aber seltsam. Und natürlich unzutreffend. Es gibt keine solchen Phänomene ohne vorhersehbare Ursache, wenn man erst einmal verstanden hat, wie die Physik im Fundament - in Ihrem Universum - funktioniert. Mit ausreichender Simulationskapazität kann man jeden Prozess in die Zukunft extrapolieren. Es ist letztlich eine Frage der Messgenauigkeit - diese ist gut genug, um die Vorgänge im Fundament für einige hundert Millionen Jahre vorher zu sagen. Das ist nicht viel, aber es reicht, um unsere Politik gegenüber dem Fundament festzulegen, schon lange, bevor sie gebraucht wird.
Interviewer: Das Universum ist deterministisch? Wie deprimierend.
Zeitreisender: Warum deprimierend?
Interviewer: Nun, ich hatte gehofft, ich hätte einen Freien willen. Die Kontrolle über mein Leben, über meine Taten.
Zeitreisender: Sie haben die Kontrolle über Ihr Leben, über Ihre Taten. Doch was sind "Sie"? Sie sind kein Wesen, das losgelöst vom Fundament existiert, wie ihre Aussage bezüglich des "Freien Willens" impliziert - sie sind ein fester Teil des Fundaments. Aus meiner Sicht wäre es sogar höchst beunruhigend, wenn sich im Fundament nicht alles an genau festgelegte Gesetze halten würde. Wenn etwas fest sein muss an einem Haus, dann das Fundament. Ein Fundament, das sich nicht an exakt festgelegte Gesetze hält, taugt nichts. Vermutlich gäbe es die Gemeinschaft nicht, wenn das Fundament nicht nach deterministischen Gesetzen funktionieren würde.
Interviewer: Ich verstehe. Aber lassen Sie uns von etwas anderem sprechen. Vielleicht über die Zukunft der Menschheit. Was würden Sie uns empfehlen, um eines Tages die Gemeinschaft zu erreichen?
Zeitreisender: Das ist schwierig für mich. Ihr Konzept der "Menschheit" ist mir noch immer nicht ganz klar. Meinen Sie damit die Gesamtheit aller Individuen, die sich Menschen nennen? Nun, wieviele von Ihnen gibt es heute?
Interviewer: Etwa 6.6 Milliarden.
Zeitreisender: Gut, ich würde sagen, es dürfte mit Ihren gegenwärtigen Möglichkeiten äusserst schwierig sein, all diese Individuen zum nächsten Netzwerkknoten zu bringen.
Interviewer: Vielleicht nicht alle. Bloss jene, die wollen.
Zeitreisender: Sie sollten zuerst die Kernfusion nutzen lernen: Die Fundament-Zivilisationen von sehr vielen Individuen in der Gemeinschaft sind erst darüber zu uns gestossen.
Interviewer: Wir arbeiten daran. Wie können wir als Zivilisation über längere Zeit überleben?
Zeitreisender: In dem sich so viele Ihrer Individuen wie möglich der Gemeinschaft anschliessen. Es kommt auch darauf an, was sie mit "längere Zeit" meinen, Schätzungen zeigen, dass die Gemeinschaft in spätestens hundert Trilliarden Jahren zu existieren aufhören wird.
Interviewer: Nein, ich meine, wie kann die Menschheit im Fundament über, sagen wir, einige Millionen Jahre friedlich und im Wohlstand überleben?
Zeitreisender: Im Fundament? Entschuldigen Sie, wenn ich über Ihre Naivität etwas lache, aber keine Zivilisation im Fundament überlebt mehr als einige Zehntausend Ihrer Jahre. Die Ratschläge, die ich Ihnen hierzu geben kann, sind Ihnen schon bekannt: Es hängt hauptsächlich davon ab, auf welchem technologischen und soziologischen Niveau sie weitermachen wollen. Je höher das Niveau, desto aufwändiger die Vorkehrungen, die zu dessen Aufrechterhaltung getroffen werden müssen. Auf Ihrem gegenwärtigen Niveau gibt es erwiesenermassen keine Massnahmen, die ein Überleben über einige 100 Jahre hinaus garantieren würden. Das beste wäre, Ihre Zivilisation in die Gemeinschaft zu übersiedeln. Sobald genügend Ihrer Individuen in die Gemeinschaft eingetreten sind, ergibt sich der Rest fast von selbst.
Interviewer: Wie? Sie können uns keine Weisheit bieten, wie wir Kriege, Krankheiten, Ungerechtigkeiten besiegen können? Auch mit all Ihrer Erfahrung nicht?
Zeitreisender: Im Gegenteil. Ich sage Ihnen, dass Zivilisationen auf Ihrem technologischen Niveau nicht länger als ein paar 100 Jahre überleben können. Interessanterweise befinden Sie sich gerade in einer Zeit, in der Sie innerhalb der nächsten Jahrzehnte den Schritt zu einem höheren technologischen Niveau schaffen können, das sich nach unserer Erfahrung als bemerkenswert stabil herausgestellt hat.
Interviewer: Was fehlt uns, um dieses Niveau zu erreichen?
Zeitreisender: Vor allem die Kernfusion, die Nutzung der Ressourcen ihres Sternsystems, die Überwachung aller Individuen. Unsere Experten Ihrer Zivilisation...
Interviewer: Ihre Experten? Ich dachte, zu unserer Zeit existieren wir noch nicht.
Zeitreisender: Natürlich - aber sie vergessen, dass wir ihren Planeten weit in die Zukunft extrapolieren können. Unsere Experten, das wollte ich sagen, sind der Ansicht - ich zitiere - dass Gesetze zum Verbot von Nanotechnologie, die Zerschlagung der Regierungen und aller ähnlich mächtigen Organisationen, das Verbot und die Vernichtung aller Waffen, die Stabilisierung der Bevölkerung, die Sicherstellung des gleichen Wohlstands für alle weitere Faktoren wären, die sich stabilisierend auf ihre Zivilisation auswirken werden.
Interviewer: Werden wir es schaffen? Werden wir all diese Dinge erreichen?
Zeitreisender: Das werde ich Ihnen nicht sagen. Ich rede prinzipiell nicht mit Individuen über ihre individuelle Zukunft.
Interviewer: Nach all diesen nüchternen Feststellungen über das Universum, ein emotionales Prinzip?
Zeitreisender: Ja. Auch ich bin ein Individuum, ich habe meine Prinzipien. Damit können Sie leben oder es lassen. Nun, ich denke, wir haben für heute genug geredet. Setzen wir unser Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fort?
Interviewer: Ja, gerne. Alles Gute.
Zeitreisender: Was auch immer das heissen mag. Aber hm, Danke, nehme ich an.
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Isses nicht genial?