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Schule in Putins Russland: ein Spagat auf dünnem Eis

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Ungelesen 17.01.22, 09:46   #1
Draalz
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Standard Schule in Putins Russland: ein Spagat auf dünnem Eis

Zitat:
Schule in Putins Russland: ein Spagat auf dünnem Eis

Das Russische hat zwei Ausdrücke, die das Leben eines jeden im Land prägen: «Nelsja», man darf nicht, und «nado», man muss. Zu Besuch in Russlands Schulen



Russlands Justiz ist willfährig, die Repression in Politik und Gesellschaft nimmt zu. Und dann sind da die Schulen. Räume, in denen Kinder die Welt zu verstehen lernen. Das russische Schulgesetz bietet erstaunlich viele Wahlmöglichkeiten. Doch wie viel Freiheit ist in einem unfreien Land möglich?

Inna Hartwich (Text) und Emile Ducke (Bilder)
15.01.2022, 05.30 Uhr


Eines Tages standen sie da, etwas zurückhaltend und mutig zugleich. Ein paar Schüler, Knaben und Mädchen. «Natalja Andrejewna», sagten sie höflich, mit Vor- und Vatersnamen, wie es üblich ist in einem Land, in dem die Menschen ihr Gegenüber nicht mit «Frau» oder «Herr» ansprechen. Schon gar nicht ihre Lehrerin. Direktorin gar! «Natalja Andrejewna, wir wollen die Melodie der Schulglocke ändern, wir wollen ein Lied auswählen.»

Natalja Sujewa, die Schuldirektorin, bekam Angst. Schüler, die irgendetwas wählen? Die etwas selbst bestimmen? Etwas, das in der ganzen Schule zu hören sein wird, etwas, wofür sie letztlich zur Verantwortung gezogen wird? Sie zögerte, überlegte lange. Die Schüler suchten, gaben das von ihnen ausgewählte Lied den Erwachsenen im Lehrer- und Direktorenzimmer weiter.

Die Ferien begannen. Und nach den Ferien: das erste Läuten der Schulglocke, das von den Schülern ausgewählte Lied! «Ein nettes Stück», sagt Natalja Sujewa lächelnd. Die Pandemie hat die Glocke zwar mittlerweile zum Verstummen gebracht. Den Stolz ihrer Schüler wird Natalja Sujewa aber nicht so schnell vergessen. «Diese Freude, dass sie etwas erreichen konnten, dass sie etwas ändern konnten. Das war toll.» Wie auch ihre eigene Erkenntnis dabei: «Die Schüler gehen verantwortungsvoll mit den Aufgaben um, für die sie sich selbst einsetzen.»

Genau auf diese Wahlfreiheit und dieses Verantwortungsbewusstsein ist das russische Bildungsgesetz von 1992 ausgelegt. Ein Gesetz, das angesichts der starken Kontrollmechanismen des Kremls überraschen mag. Dem Paragrafen nach ist Schule in Russland so frei wie kaum woanders auf der Welt. Eine Schulpflicht gibt es nicht. Es gibt lediglich eine Bildungspflicht. Wie das Kind zur Bildung kommt, bleibt jeder Familie in Russland selbst überlassen.

Kleine Patrioten mit Kalaschnikows

Natalja Sujewa ist eine energische Frau. Eine, die offen auf Menschen zugeht, eine, die aber auch zu bestimmen weiss. Eine ehrgeizige junge Schulmanagerin. «Guten Tag», sagen die Schüler, wenn sie sie sehen, und springen auf, sobald sie den Raum betritt.


Natalja Sujewa: Mit 32 wurde sie Direktorin der Quartierschule Nummer 1637 im Moskauer Osten. Lehrer sind für sie «universelle Soldaten».


«Eine gewöhnliche Schule in einem gewöhnlichen Stadtteil»: 52 Klassen verteilen sich auf fünf Gebäude im Moskauer Quartier Perowo.

Ihr Weg an die Schule war geradezu vorgezeichnet. Die Grossmutter Lehrerin, die Mutter Lehrerin. Natalja Sujewa studierte Logopädie und landete schliesslich auch in einem Schulhaus. Mit 32 Jahren wurde sie Direktorin der staatlich-allgemeinbildenden Schule Nummer 1637 im Moskauer Stadtteil Perowo, im Osten der russischen Hauptstadt. Ein Quartier mit fünfstöckigen Plattenbauten, mit viel Grün darum herum. Hier leben viele Arbeiter und Angestellte, Menschen, die nicht arm sind und nicht reich. «Eine gewöhnliche Schule in einem gewöhnlichen Stadtteil», sagt Natalja Sujewa.

Vier Jahre macht sie den Job nun, hat die Aufsicht über fünf Schulbauten, von der Primarschule bis zur Oberstufe, 52 Klassen an der Zahl. Eine gut ausgestattete Einrichtung. Hier gibt es die Medizinklassen, die die Schüler mit einer Krankenpflegeausbildung verlassen, die IT-Klassen, in denen sie das Programmieren lernen, die Kadettenklassen, in denen Mädchen wie Knaben ab zwölf Jahren eine harte Disziplin verinnerlichen, in Angriff und Selbstverteidigung unterrichtet werden, in Sekundenschnelle eine Kalaschnikow auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, angeleitet von den Offizieren der Armee, die hier als Lehrer und Erzieher arbeiten.


Von der Armee angeleitet: Ein Kadettenanwärter einer 6. Klasse der Moskauer Schule Nummer 1637 setzt ein Kalaschnikow-Sturmgewehr zusammen.


Pause im streng getakteten Kadettenalltag: Die Sechstklässler der Moskauer Schule Nummer 1637 machen all das, was ihre Nicht-Kadetten-Mitschüler auch machen – mit dem Smartphone spielen.

«Wenn unsere Kadetten bei Paraden exerzieren, sind wir sehr stolz auf sie. Wie hübsch sie aussehen, wie stramm sie stehen können. Echte Patrioten!», sagt Natalja Sujewa.

Doch der Drill gilt nicht für alle Kinder. «Den Druck und den Gehorsam von morgens um acht bis abends um sechs hält nicht jeder aus», sagt Natalja Sujewa. In ihrem weitläufigen Direktorinnenzimmer stehen auf dem Vitrinenschrank die Maskottchen der Schule, hinter Glas lehnt das Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Zäune und Kontroll-Apps

Russische Schulen sind geschlossene Systeme. Mit Zäunen darum herum, mit Wachmännern am Eingang, mit Drehkreuzen, die mit schuleigenen Zugangskarten zu passieren sind, und zuweilen Überwachungskameras, die in jedem Klassenzimmer hängen. Das soll der Sicherheit dienen, der Abwehr von Terrorgefahr. Eltern wissen oft nicht, was sich in den Schulen ihrer Kinder abspielt. Die Einschränkungen wegen des Coronavirus lassen sie nicht einmal mehr auf das Schulgelände.

Und doch meinen sie, ihr Schulkind zu kennen – wegen der Digitalisierung. Kaum hat ihr Kind das Drehkreuz passiert, ploppt eine Nachricht auf dem Smartphone der Eltern auf. Kaum hat es in der Schulkantine etwas gekauft, meldet die App, was es sich zum Mittagessen leistet. Kaum hat die Lehrerin eine Note in das digitale Klassenbuch eingetragen, können das Mütter und Väter sofort auf ihren Telefonen sehen.

Keine Note, keine Hausaufgabe bleibt vor den Eltern verborgen. Auch keine Fehlstunde. Sie wissen von ihrem überwachten Kind schon vieles, noch bevor es von der Schule zu Hause angekommen ist, und hinterfragen kaum, was das für das gegenseitige Vertrauen bedeutet.

«Der Lehrer ist ein universeller Soldat, der immer bereit sein muss, den Interessen und dem Bedarf der Eltern zu entsprechen: ein Kind in allen Bereichen so weit zu entwickeln, dass es bei Olympiaden und Wettbewerben Erfolg hat und schliesslich an eine gute Uni kommt», sagt Natalja Sujewa.

Natürlich hat auch sie die Kontroll-App, die ihr anzeigt, was für Prüfungen ihr Sohn Iwan hat. «Zwei Fehltage, stimmt, da war er krank.» Die Eltern seien es, die das Recht hätten, den Weg ihres Kindes zu planen, für das Kind Zusatzangebote, die es auch in der Schule Nummer 1637 zuhauf gibt, auszuwählen. Und das Kind? «Es spricht nicht immer mit.»

Das Russische hat zwei Ausdrücke, die das Leben eines jeden im Land prägen. «Nelsja», man darf nicht, und «nado», man muss.

Wie anderswo auch sind es in Russland die Erwachsenen, die meinen, am besten zu wissen, was für Kinder gut ist. Und gut ist, was Erfolge verspricht. Gewinne bei Wettkämpfen, rote Diplome, mit denen Universitäten ohne Zugangstests zu erreichen sind. Deshalb ist bereits der Kindergarten in Quasiklassen eingeteilt, es gibt Mathematik für Dreijährige, lesen zu können, ist geradezu Pflicht, noch bevor die Kinder eingeschult werden.

Vollbeschäftigung des Kindes – Unterricht, Sport, Musik, Theater, Kunstschule, Robotikprogramme in Museen – ist für viele Eltern das grosse Ziel. Lernen steht im Vordergrund, bloss kein «Nichtstun». Manche Eltern berichten stolz von «Arbeitstagen» ihrer Kinder, die länger seien als ihre eigenen. Der Erwachsene bestimmt, was das Kind tut. Das Kind muss folgen.

Das Russische hat zwei Ausdrücke, die das Leben eines jeden im Land prägen. «Nelsja», man darf nicht. Man darf nicht widersprechen, man darf in der Schule nicht herumrennen, man darf keine blauen Sonnen und keine roten Elefanten malen. Man darf dieses nicht, man darf jenes nicht. Warum nicht, wird selten erklärt. Stattdessen gibt es viel «nado», man muss: Buchstaben lernen mit zwei, schlafen im Kindergarten noch mit sechs, dem Lehrer huldigen. Man muss, weil man muss.

Spielen als Revolution

Eltern, die ihre eigene – sowjetische – Erziehung hinterfragen, die vielfach auf Gehorsam und Unterwerfung, auf Beschämung und Schuld setzte, wenden sich immer mehr von «nelsja» und von «nado» ab, Konzepten, die letztlich auf Zwang hinauslaufen. Sie orientieren sich an den Bedürfnissen ihrer Kinder und lassen sie im Herbst auch schon einmal ohne Mütze hinausgehen, auch wenn ihnen andere hinterherschreien: «Man muss dem Kind eine Mütze aufsetzen!»

«Wer ist eigentlich ‹man›, und für wen ist das ein ‹Muss›?», fragte sich Alexandra Iwlijewa immer wieder. Vor allem, als ihre eigene Tochter Alisa zur Welt kam. Das Kind wurde grösser, wurde aktiver, interessierter an anderen Kindern. Ein Kindergarten für Alisa sollte her.

Alexandra Iwlijewa, die in Harvard studiert hat und die Freiheit in der Wissenschaft wie im Leben schätzt, wollte, dass ihre Tochter sich frei entfalten könne, experimentieren könne, die Welt entdecken könne. In ihrem Tempo, nach ihren eigenen Interessen. Sie suchte – und fand keine passende Einrichtung in der Nähe.

Also startete die heute 32-jährige Juristin etwas, was geradezu revolutionär ist in einem Land, in dem manche Erzieherinnen – ohne einen Skandal damit auszulösen – Kinder noch immer in die Ecke stellen, ihnen die Arme nach hinten drehen und ihnen dabei das Mittagessen hineinlöffeln: Sie gründete den landesweit ersten reinen Spielkindergarten. Für viele eine grässliche Vorstellung. «Da lernen sie ja nichts!» Umgerechnet knapp tausend Franken kostet der Monatsbeitrag. Eine Summe, die sich nur Gutverdienende leisten können.

Die Kinder in ihrem «Sadik-Scharik», dem Kugelkindergarten, weil das zweistöckige Gebäude in der Moskauer Vorortsiedlung Maloje Sarejewo wie eine Kugel aussieht, gestalten ihren Alltag selbst, angeleitet von jungen Männern und Frauen, die mit ihnen schreinern, Zeichentrickfilme drehen und vor allem spielen. Alisa und all die anderen Drei- bis Siebenjährigen sind aufgeschlossene Menschen, denen viel zugetraut wird. Denen vor allem viel eigene Wahl zugestanden wird. «Ich sehe, wie die Kinder aufblühen, wenn man sie ernst nimmt und ihnen vertraut, und ich wünsche mir, dass ein solches Vorgehen auch immer mehr staatliche Einrichtungen erreicht», sagt Alexandra Iwlijewa.

Formen des Lernens gibt es zuhauf. Die gängigste ist die staatliche Schule, etwa 16 Millionen von 17 Millionen Schülern in Russland besuchen sie.

Alisa ist mittlerweile sechs. Was macht ihre Mutter? Sie will diesen Herbst eine Schule eröffnen, mit einer anderen Mutter. Direkt neben «Sadik-Scharik», weitere Filialen sind geplant. «Schkolab» nennen sie ihr Projekt. Eine Mischung aus «Schule» und «Labor». Die Kinder sollen sich hier selbst organisieren und ihren Bildungsprozess bestimmen. Jeden Tag aufs Neue. Morgens sollen Ziele gesetzt werden, im Laufe des Tages die verschiedenen «Werkstätten» – Leselabor, Rechenlabor, Mallabor – besucht werden, und am Abend gibt es die Auswertung: Was habe ich erreicht? Wo hatte ich Schwierigkeiten? Warum hatte ich diese? Wie geht es weiter? Alexandra Iwlijewa sagt: «Wir nutzen die Freiheit, solange sie uns vom Staat gelassen wird.»

Formen des Lernens gibt es zuhauf. Die gängigste ist die staatliche Schule, etwa 16 Millionen von 17 Millionen Schülern in Russland besuchen sie. Für die Familien ist sie kostenlos. Den oft rigiden Umgang mit den Kindern dort nehmen viele Eltern hin, manche heissen ihn auch gut. «Schule ist eben so», sagen sie dann.

Die staatlichen Einrichtungen unterliegen immer stärker einengenden Massnahmen: Patriotismusunterricht, einheitliche Geschichtsbücher, die die offizielle Sicht auf die Geschichte des Landes als Geschichte der Sieger propagieren, Gesetze, die internationale Kooperationen mit Russland erschweren.

Oft zählt die Disziplin, nicht das Hinterfragen von Vorgegebenem. Das Lernen ist sehr formell organisiert, Ergebnisse bei landesweiten Olympiaden bringen den Schulen Pluspunkte – und eine bessere finanzielle Ausstattung durch den Staat. Nehmen Lehrer sich zu viele Freiheiten heraus und weichen sie von den gängigen Methoden ihrer Staatsschule ab, legt ihnen die Verwaltung die Kündigung nahe. Privatschulen bieten mehr Wahlmöglichkeiten, sind aber oft mit weiten Wegen verbunden und nicht für jeden zu finanzieren.

Manche Kinder bleiben an der staatlichen Schule angemeldet, bekommen den Unterrichtsstoff nach Hause und schreiben die Prüfungen im Klassenraum. Manche gehen nur zu bestimmten Fächern in die Schule oder an bestimmten Tagen. Andere melden sich an einer Online-Schule an, haben dort eigene Mentoren oder schauen sich den Unterrichtsstoff per Video an.

Wieder andere sind nirgendwo angemeldet und leben das Unschooling, das Freilerner-Prinzip: Das Kind entscheidet dabei, was und wie es lernt. Manche Eltern organisieren sich in Gruppen, unterrichten die Kinder selbst oder stellen Nachhilfelehrer an. Homeschooling als Lebensphilosophie. Die Prüfung für die Mittelstufe und die Matura können die Hausschüler extern ablegen.

«Semeiniki» werden solche Schüler genannt. Familienlerner. Bis zu 200 000 «Semeiniki» soll es in Russland geben, eine genauere Statistik gibt es dazu nicht. Es ist ein Leichtes, sein Kind von der Schule zu nehmen. Es ist auch nicht sonderlich schwer, das Kind wieder an einer Schule anzumelden, wenn das Homeschooling der Familie doch nicht passt.

Und was ist mit Nawalny?

Der Bildungsbaukasten macht auch Schulgründungen einfach. Dass sich neue, vor allem demokratisch organisierte Schulen zuweilen auf dünnem Eis bewegen, wissen die Betreiber.

Wie damit umgehen, wenn Schüler plötzlich über Alexei Nawalny sprechen wollen, den Mann, dessen Namen der russische Präsident nicht einmal in den Mund nehmen will? Was, wenn die Homosexualität ein Thema in der Schülerschaft ist und es im Land ein Gesetz gibt, das «Homosexuellen-Propaganda» unter Strafe stellt? Und wie ist der geforderte Patriotismusunterricht zu gestalten, wenn all die Werte, die die Lehrer ihren Schülern sonst beizubringen versuchen, dem völlig entgegenlaufen? Schliesslich rühmen sich gerade viele Privatschulen, bei ihrer Unterrichtsgestaltung von den Bedürfnissen der Kinder auszugehen, sie individuell zu fördern.

Es gilt die Strategie des Lavierens. Wenn die Schüler über Nawalny reden wollten, okay, dann aber nicht über seine Politik. Der Lehrer weise darauf hin, dass eine Demo gefährlich werden könnte und dass die Schüler noch minderjährig seien. Wenn die Schüler die Rechte der LGBTQI ansprächen, dann redeten die Lehrer mit ihnen eben allgemein über die Rechte der LGBTQI. Darüber, wie es sich in der Welt damit verhalte und wie in Russland.


ie der Winter ist das Schulsystem in Russland oftmals harsch und streng. Im Bild die Christ-Erlöser-Kathedrale im Zentrum Moskaus.


Doch Schule kann in Russland auch erstaunlich vielfältig sein, wie die Formen der Eisschollen der gefrorenen Moskwa im Herzen der Kapitale.

skaus. Einer Privatschule, die zu einem Drittel von einer Bildungsstiftung mitfinanziert wird und seit 2017 Kinder von der ersten bis zur elften Klasse ausbildet. In einem neu gebauten Schulkomplex. Mittlerweile sind es 500 Schüler, die Schule plant einen Ausbau.

Allein das helle, lichtdurchflutete Gebäude unterscheidet sich von vielen russischen Schulen. Die Flure sind breit, da darf auch Fussball gespielt werden. Niemand hier ermahnt die Schüler, nicht durch die Gänge zu rennen. Die Tische in den Klassenräumen stehen so, wie es gerade gebraucht wird, nicht in drei Reihen hintereinander.

Durch das Glas in der Tür dürfen Schüler, Lehrer und vor der Pandemie auch Eltern in die Klassenräume blicken. Auf den Fensterbänken sitzen kleine Grüppchen, vertieft in ihre Aufgaben. Die Kinder tragen Uniformen und darüber oft ihre Zugangskarte für die Schule. An die Wand im Erdgeschoss dürfen sie malen, was sie wollen und wie viel sie wollen.

Wladimir Larin ist immer wieder erstaunt, dass er keinen «Schrott» an dieser Wand finde. In der Schule wird Müll getrennt und im Bioraum ein Chamäleon gefüttert. Am Nachmittag kommen schulfremde Kinder aufs Gelände, zum Zusatzunterricht: Roboter bauen, Hindernisse aus Matten und Klettergerüsten überwinden, Schlagzeug spielen. «So eine Schule hätte ich in meinem Leben auch gern besucht, dann wäre Schule vielleicht in guter Erinnerung geblieben», sagt so manche Grossmutter, die im Flur auf ihr Enkelkind wartet.

Das Neue an der Neuen Schule sei vor allem das Ziel, die Kinder nicht mit dem vollzustopfen, was nicht das Ihre sei, erklärt Wladimir Larin, der eines Tages, als Lehrer an seiner früheren Schule, feststellte: «Es läuft etwas schief im System: Es entscheiden immer die Eltern, und wenn das Kind etwas nicht packt, hören sie es nicht.»

Die Stundenpläne der Oberschüler sehen so bunt aus wie ein Lego-Set, jeder baut mithilfe eines Tutors seinen eigenen Plan.

Wladimir Larin will vor allem die Kinder hören. Die Zugangstests für die Schule sind hart. Für 48 Plätze für die erste Klasse hat es im vergangenen Jahr 800 Anmeldungen gegeben. Auch die Eltern werden getestet, vor allem wird geprüft, ob die Werte der Familie mit den Werten der Schule kompatibel sind. Die Familien müssen Gespräche mit Psychologen absolvieren und auch einige Bewegungstests und Sportspiele durchlaufen.

Selbstbestimmung und Partnerschaft sind der Schule wichtig. Ihr Absolvent solle «der Autor seines eigenen Weges» sein. Die Schule setzt auf Leistung. Leistung aber heisse nicht per se gute Noten. Die Stundenpläne der Oberschüler sehen so bunt aus wie ein Lego-Set, jeder baut mithilfe eines Tutors seinen eigenen Plan.

«Hier gibt es so viel Tolles zu machen, dass ich alles ausprobieren wollte. Aber man verheddert sich auch ein wenig», erzählt Polina Owtscharuk. Die 19-Jährige war in der 10. Klasse von einer Mathematik-Spezialschule hierher gewechselt, mittlerweile studiert sie und kommt immer wieder an ihre Schule, um interessierte Eltern durch die Räume zu führen. «Alles war so anders als in meiner anderen Schule. So freundlich, mir zugewandt. Von hier wollte ich selten nach Hause gehen. Ich hatte oft das Gefühl, etwas zu verpassen.»

Auch Wladimir Larin merkt, dass die Pflicht zur Wahl die Schüler zuweilen überfordert. Es müssten wohl engere Rahmen her. Welche, das müssten die Kinder sagen.

Der Pop-Star der Pädagogen

Die Schule als Mittelpunkt des Lebens, die Schüler in ihrer Mitte. Doch müssen sie überhaupt Schüler genannt werden? Und die Lehrer Lehrer? Gehören Hausaufgaben zu einer Schule dazu? Und Noten? Warum muss Schule überhaupt sein? «Na, weil Lernen einfach cool ist!», sagt Dima Sizer. Es sei cool, Fragen zu stellen, cool, überhaupt etwas infrage zu stellen, einfach zu zweifeln.


Der grosse Zweifler: Dima Sizer, der 55-jährige Direktor der Sankt Petersburger Schule «Apfelsine», in einem Klassenzimmer, das als Atelier und Werkstatt dient.


Früher eine Fabrik, heute eine «Schule nicht formeller Bildung»: In der Privatschule «Apfelsine» spielen die Schüler während einer Pause im Schnee.

Dima Sizer ist ein grosser Zweifler – mit eigener Schule in Sankt Petersburg. Einem Schulhaus, das Klassen hat und Stundenpläne und ein Schulparlament, ohne das nichts geht. Als «Schule nicht formeller Bildung» bezeichnen Sizer und seine Frau Natalja ihr Projekt in einer ehemaligen Industrieanlage gleich neben dem Botanischen Garten.

Sie haben ihr den Namen «Apfelsine» gegeben, einfach, weil das Wort nett klinge. Beide sind Pädagogen. Er für Literatur und Theater, sie für Mathematik. Ihre jüngste Tochter Emma lernt auch hier. «Indirekt hat sie wahrscheinlich sehr viel mit der Gründung zu tun», sagt Sizer in seinem orangen Sessel im Direktorenzimmer.

Immer wieder schauen Kinder herein. «Teilnehmende» heissen sie in der «Apfelsine», Schüler wie Lehrer wie Eltern. Hier gibt es keine Drehkreuze und keine Zugangskarten, keine digitalen Klassenbücher, keine Hausaufgaben und keine Noten.

«Wir sprechen viel miteinander, von Mensch zu Mensch», sagt die Schülerpräsidentin Karina Kameletdinowa, 14 Jahre alt ist sie. Seit sie vier ist, besucht sie die «Apfelsine», fängt etwas an («Geschichte und Mathematik sind toll»), gibt auch etwas auf («Bei Theologie hat es irgendwie nicht klick gemacht»). «Ich lerne mich hier selbst kennen und fühle mich ernst genommen.»

Vermeintlich Feststehendes infrage stellen

Es ist zehn Uhr morgens in Sankt Petersburg. Durch die Lautsprecher der «Apfelsine» tönt «Bella ciao», das italienische Partisanenlied, eine Art Glocke für die 200 Mädchen und Knaben. Das Schulparlament hat es ausgesucht, die Schulregierung hat es bestätigt. Die Schüler stimmen seit Jahren dafür, dass es erhalten bleibt. Hier wird im Kleinen gelebt, wofür sich im Grossen in Russland viele seit Jahrzehnten einsetzen. Die Demokratie.

Natürlich wolle er, sagt Dima Sizer, dass auch im Land vieles einfacher werde. Systeme, Schule wie Gesellschaft, aber seien konservative, oft schwer bewegliche Riesen. Seinen Schülern will er das Rüstzeug vermitteln, wie sie in welchen Situationen handeln könnten, egal, in welchem politischen System sie ihr Leben zu verbringen gedenken.

Und das gehe nur in einer Beziehung, die nicht von oben herab bestimmt werde, sondern in der jeder ein Subjekt sei, mit persönlichem Interesse aller Teilnehmenden an den Themen, mit Austausch und Dialog, durch Wahl und Erforschung. Mittel, die in staatlichen Schulen wenig bis gar nicht zum Zug kommen.

Dima Sizer ist eine Art pädagogischer Pop-Star in Russland. Er veröffentlicht Bücher, die Namen tragen wie «Freiheit von der Erziehung», «Von der Sinnlosigkeit, Jugendliche zu erziehen» oder «Warum in die Schule gehen?». Er tritt in Räumen voller Menschen auf, die alle eine Antwort auf die Frage suchen: Wie geht das denn, ein harmonisches Leben mit Kind? Er schreibt Aufsätze, gibt Kurse für angehende Lehrer, geht in Fernsehsendungen, erklärt im Radio und im Internet, wie ein liebevolles Miteinander funktionieren kann.


«Teilnehmende» heissen Schüler wie Lehrer wie Eltern in der «Apfelsine». Auch der Schuldirektor Dima Sizer, der hier ein Theaterstück am Klavier begleitet.


Die Lehrerin Tatjana Drosdowa bietet in der «Apfelsine» zweimal in der Woche Yoga an. Die Mädchen und Knaben können den Kurs wählen – oder es auch lassen.

Er tritt als Begleiter und Kumpel auf. Darauf weist bereits sein Vorname hin. Dima ist eine Koseform, das klingt vertraut, fast familiär. Auch seine Schüler nennen ihn so. Sizer fragt stets nach dem Warum, dem Wofür. Er tut das in einer entspannten Weise, gleichzeitig aber sehr dynamisch. Diese Mischung ist dem 55-Jährigen eigen, manchmal kommt sie spitzbübisch daher und doch stets Distanz wahrend.

Vermeintlich Feststehendes bröckelt da, wenn auch langsam, auseinander. Seine Radiosendung «Lieben, nicht erziehen» im staatlichen Sender Majak (Leuchtturm) ist ein Sittenbild des Miteinanders im Land. Eines Umgangs, oft mit Gewalt durchsetzt.

«Es ist gut, dass die Leute ihre Geschichten erzählen. Sie fangen an zu hinterfragen und legen nicht sogleich damit los, dass Kinder ordentlich durchgeprügelt gehörten, weil sie nicht ‹spurten›. Vor ein paar Jahren war das in der Tat noch so», erzählt Sizer.

«Sich selbst treu sein, das ist uns wichtig. Frei sein.»

Den Mädchen und Knaben in seiner Schule, nach einer Bewerbung per Los ausgesucht, traut er vieles zu. Hier kann jeder jederzeit aufstehen und in eine andere Klasse gehen, wenn ihn das Thema dort mehr interessiert. Die Räume auf den vier Etagen sind mit kleinen Durchblicken nach innen ausgestattet, die Kinder sehen, was dort passiert, und dürfen sich dazugesellen. Sie dürfen die Tische so stellen, wie es ihnen gefällt, dürfen am Boden und auf der Fensterbank lernen. Sie dürfen malen statt schreiben, dürfen auch in die Cafeteria, wenn Geografie gerade uninteressant erscheint. Das aber passiere nicht oft, erzählen sie hier, zu spannend sei der Unterricht.

Der Stundenplan an der Wand im Erdgeschoss sieht aus wie ein geordnetes Chaos. Es gibt Russisch und Englisch und Mathematik, es gibt Fechten und Tanzen und Design.

Es gibt vor allem viel Auswahl. So wählen die Erstklässler in der zweiten Stunde zwischen Schach, Technologie und Kochen, die Achtklässler in der fünften Stunde zwischen Algebra, Lesen, Gitarre, Chemie, Russisch und Geometrie. Über fakultative Fächer stimmt das Parlament ab, aus jeder Klasse zwei Vertreter und insgesamt vier Lehrer. Und wenn nur ein einziger Schüler zum Beispiel Ivrit lernen will, lernt er eben Ivrit.

Mit Personalmangel wie in den Anfängen des Schulprojekts vor zehn Jahren hätten sie nicht mehr zu kämpfen. Die «Apfelsine» ist zu einem Anziehungspunkt geworden. Schule sei etwas Privates, eine Schulpflicht spricht für Sizer dagegen. «Sich selbst treu sein, das ist uns wichtig. Frei sein.» In Russland.
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