"Bahnfahren ist immer eine Grundübung in Demokratie"
Zitat:
Stephan Grünewald
"Bahnfahren ist immer eine Grundübung in Demokratie"
Warum haben die Deutschen so ein gestörtes Verhältnis zur Bahn? Der Psychologe Stephan Grünewald sagt: Es liegt an ihrer Anspruchshaltung.
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31. Mai 2021, 15:59 Uhr
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"Die Bahn ist für die Menschen eine Selbstverständlichkeit", sagt der Soziologe Stephan Grünewald. © Julian Hochgesang/unsplash.com
30 Jahre ist es in diesen Tagen her, dass der erste ICE durch Deutschland fuhr. Politisch hatte die Bahn noch nie so viel Rückhalt wie heute, schließlich ist es das klimafreundlichste Verkehrsmittel für lange Strecken. Trotzdem bleibt das Verhältnis der Deutschen zur Bahn zwiespältig, sagt der Psychologe Stephan Grünewald.
ZEIT ONLINE: Herr Grünewald, der Sommer und die Ferienreisezeit kommen, die Pandemie-Schutzmaßnahmen werden gelockert, und es fahren wieder mehr Menschen Bahn – jetzt mit einem anderen Gefühl als vorher?
Stephan Grünewald: Die Grundsorge, sich zu infizieren, fährt immer noch mit. Wir erleben im Moment einen Übergang: Das Gebot – "du sollst nicht mobil sein"– ist ersetzt worden durch "Bahnfahren, das geht wieder". Bis zum zweiten Schritt, "Bahnfahren ist ein soziales Event, das ich genießen kann", dauert es noch etwas.
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Stephan Grünewald
ist Psychologe und Mitbegründer des rheingold Instituts. Mit seinen Kollegen führt er jedes Jahr mehr als 5.000 Tiefeninterviews zu aktuellen Fragen aus Markt, Medien und Gesellschaft durch. Der "Seelenforscher der Nation" (db mobil) schrieb Bücher wie "Deutschland auf der Couch" oder "Wie tickt Deutschland".
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ZEIT ONLINE: Bedeutet das etwa ein Ende der Bahn als Reisemittel für gesellige Runden, Fußballfans, Mädelsausflüge, kartenkloppende Rentner, Posaunengruppen?
Grünewald: Nicht ernsthaft. Wir werden wieder in eine kompensatorische Phase kommen, in der eine intensive Geselligkeit buchstäblich wieder zum Zug kommt. Denn Bahnfahren verspricht ja immer auch, dass man nicht nur das Land, sondern auch die Leute kennenlernen kann – die Frau oder den Mann auf dem Sitz gegenüber …
ZEIT ONLINE: … der Sitz, der im Moment sicherheitshalber gesperrt ist, weil die Bahn versucht, die Reisenden auf Lücke zu verteilen. Auch wenn wir an Infektionsgefahren der Zukunft denken: 8url=https://www.zeit.de/2021/22/ice-dreissigster-geburtstag-deutsche-bahn-bahnangestellte-markteinfuehrung-erfahrungsbericht]Vor ziemlich genau 30 Jahren fuhr der erste ICE in Deutschland[/url]. Damals reisten die Fahrgäste noch viel mehr in Abteilen. Später setzte die Bahn auf Großraumwagen. Waren Abteile nicht doch die bessere Alternative?
Grünewald: Abteile sind ein geschlossener sozialer Raum, in dem die Reisenden viel stärker aufeinander bezogen sind. Dadurch entsteht eine Nähe, der man sich nur schwer entziehen kann. Im Großraumwagen sitzt man zwar physisch auch nahe zusammen, hat aber wesentlich mehr Freiraum für sich. Und für das, was man tun will. Die Großraumwagen sind nach Funktionalität unterteilt: Handyzonen, Ruhebereiche – das gab es früher alles nicht. Der Hintergrundgeräuschteppich suggeriert eine soziale Einbettung – selbst wenn ich autonom bleiben will. Wie in einem mobilen Kaffeehaus kann der Bahnreisende sein Homeoffice oder seine Lektüre in den Zug hinein verlagern.
ZEIT ONLINE: Klingt, als sei die Bahn für viele schon ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Was für eine Beziehung haben wir Deutsche überhaupt zur Bahn?
Grünewald: Es ist eine sehr innige Beziehung, die immer auch mit Kränkungen verbunden ist. Die Bahn ist für die Menschen eine Selbstverständlichkeit. Sie kutschiert uns durch die Gegend und transportiert so auch ein Kindheitsgefühl. Sie versetzt uns zurück in die Zeit, als Papa und Mama uns herumfuhren. Und wenn etwas nicht klappt, fühlen wir uns vernachlässigt.
ZEIT ONLINE: Wie kommt das?
Grünewald: Indem wir in die Bahn steigen, geben wir Autonomie ab. Im Auto sind wir unser eigener Steuermann. In der Bahn überantworten wir uns auf Gedeih und Verderb einem fremden Räderwerk. Wenn wir zum Beispiel auf freier Strecke stehen bleiben, können wir nicht einfach rechts ranfahren oder zumindest das Fenster herunterlassen, sondern sind der Situation komplett ausgeliefert. Dieses Ohnmachtsgefühl wird im schlimmsten Fall noch verstärkt, wenn wir keine oder nur unzureichende Informationen über die Weiterfahrt bekommen. Im Auto gibt es zumindest Verkehrsfunk oder Navi und den Blick durch die Windschutzscheibe.
ZEIT ONLINE: Die staatliche Fürsorge beim Transport wird uns sogar vom Grundgesetz garantiert. Artikel 87e legt fest, dass dem "Wohl der Allgemeinheit (...) beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten (...) Rechnung getragen wird". Haben wir nicht generell sehr hohe Erwartungen an die Bahn?
Grünewald: Sicherlich. Sie wird sozusagen als staatliche Institution angesehen und damit ist sie fast schon ein persönlicher Besitzstand der Menschen. Unbewusst werden dann noch Beförderungs*ansprüche transportiert, die wir hatten, als wir noch nicht selbst fahren konnten. Werden diese nicht erfüllt, erleben wir das als persönliche Zurücksetzung. Da regiert weder Vernunft noch Verständnis: Zum Autonomieverlust gesellt sich dann das Gefühl, nicht geliebt zu werden.
"Das probateste Mittel ist, den Anspruch aufzugeben"
ZEIT ONLINE: Gibt es somit ein gefühltes Menschenrecht auf Beförderung?
Grünewald: Zumindest ein Gewohnheitsrecht: Erst wurden wir im Mutterleib kostenlos befördert, dann im Kinderwagen, danach hat*ten wir elterliche Chauffeure. Diese Anspruchshaltung über*trägt sich ganz gewiss auf die Bahn.
ZEIT ONLINE: ... auf Ticketerstattung, wenn etwas nicht klappt?
Grünewald: Wenn unser Anspruch nicht erfüllt wurde, fühlen wir uns gekränkt und betrogen. Die Erstattungen sind ein Versuch, die Kränkungen zu verrechnen, ein Pflaster auf die seelische Wunde. Wenn das ausbleibt, ist die Wut noch größer.
ZEIT ONLINE: ... auf warme Mahlzeiten zu jeder Bahnzeit?
Grünewald: Da sind wir wieder bei den kindlichen Versorgungsansprüchen. Wenn unsere Bedürfnisse nicht rund um die Uhr gestillt werden, werden wir laut.
ZEIT ONLINE: ... auf einen Sitzplatz?
Grünewald: Wer von A nach B will, der braucht einen festen und verlässlichen Platz, von daher gibt es zwei größtmögliche Störfälle: Entweder mir fährt der Zug vor der Nase weg oder ich bin drin und kriege keinen Sitzplatz. Das ist Liebesentzug hoch drei.
ZEIT ONLINE: ... auf pünktliche Züge?
Grünewald: Sie sind der Trost für den Autonomieverlust. Wenn die Bahn unpünktlich ist, verstärkt sich das erlebte Ohnmachtsgefühl, wir verlieren die Kontrolle über unser Zeitmanagement. Das ist psychologisch sehr nachvollziehbar, aber von der Realität schier nicht einzulösen. Das probateste Mittel ist, den Anspruch aufzugeben, dass die Bahn absolut planmäßig und pünktlich zu sein hat. Diesen Wunsch kann kein Beförderungsmittel erfüllen.
ZEIT ONLINE: Woher kommt eigentlich der Pünktlichkeitswahn, was die Bahn angeht? Im Auto sind wir doch ständig später, als das Navi verspricht.
Grünewald: Beim Autofahren führen wir einen ständigen Kampf gegen die Uhr. Wir sind laufend dabei, ein paar Minuten gutzumachen. Zugleich haben wir es selbst in der Hand, mal den Schlendrianmodus zu wählen und einen Gang zurückzuschalten. Der Bahn können wir nicht sagen: Fahre mal schneller! Und damit sind wir wieder bei der Ohnmacht. Einziger Trost: Verlässlichkeit.
"Ich pöbele, also bin ich"
ZEIT ONLINE: Mit dem Bahnfahren verbinden die Menschen im Land doch auch viel Positives.
Grünewald: Es ist ein Zugewinn an Handlungsoptionen. In der Bahn kann ich arbeiten, mich unterhalten, aus dem Fenster gucken, Essen gehen, lesen, stricken oder schlafen. Die Kunst besteht ja gerade darin, aus der geschenkten Zeit etwas zu machen. Bahn fahren ist gewissermaßen eine Dehnungsfuge im hektischen Hamsterrad, das wir Alltag nennen. Da können wir unsere Perspektive wechseln und mit anderen ins Gespräch kommen. Das Problem ist nur, dass viele Leute die Bahn mittlerweile als mobiles Büro nutzen und dann gar nicht mehr zur Ruhe kommen.
ZEIT ONLINE: Wenn Sie durch einen Großraumwagen im Nahverkehr gehen, sehen Sie da Deutschland im Brennglas?
Grünewald: Bahnfahren ist immer eine Grundübung in Demokratie. Man ist nicht im hermetischen Sozialbiotop, sondern kommt mit anderen Generationen und Berufsständen zusammen. Ich fahre lieber in der zweiten Klasse, denn da findet sich ein Panoptikum unserer Alltagskultur.
ZEIT ONLINE: Wie kommt es, dass sich manche Menschen im Zug rücksichtsvoll benehmen und andere weniger?
Grünewald: Bahnfahrer verhalten sich dann rücksichtslos, wenn sie sich zu wenig wertgeschätzt oder versorgt fühlen. Wenn ich an einen Schaffner gerate, der mich anraunzt, oder ich auf ein ungepflegtes Ambiente treffe, verstärkt sich dieses Gefühl noch und ich neige dann dazu, mich selbst weniger an Regeln oder die Etikette zu halten. In seltenen Fällen heißt es dann: Ich pöbele, also bin ich.
ZEIT ONLINE: Und die Menschen, die anderen ihre lauten Telefongespräche aufdrängen? Oder ihre tobenden Kinder? Essensgerüche?
Grünewald: Geräusche und Gerüche sind sozusagen der Preis der Lebendigkeit und des sozialen Miteinanders.
ZEIT ONLINE: Bleiben wir beim Bahngefühl. Viele Menschen empfinden ihr Auto als Wohnzimmer auf Rädern, als Verlängerung des eigenen Selbst. Wie sieht es da beim Großraumwagen im Zug aus?
Grünewald: Das Auto ist eine individuelle Blase, ein Klangkörper, in den nichts Fremdes eindringt, der perfekte Rückzugsort. Da bin ich in meinem Kokon – ganz anders als im Großraumwagen eines ICE. Die Pandemie hat den Wunsch nach sozialer Distanz noch verstärkt: Aus einer Kultur der Nächstenliebe wurde eine Kultur der Fernbeziehung. Im Auto haben wir einen hermetisch abgeriegelten Raum; in der Bahn muss ich ständig darauf achten, ob die Abstände noch stimmen, und will auch nicht mit drei wildfremden Menschen an einem Tisch sitzen.
ZEIT ONLINE: Hat uns die Bahn nicht auch Halt gegeben in schweren Zeiten?
Grünewald: Das ist zweifellos gelungen. Der Alltag der Menschen wurde zum Beispiel im Lockdown urplötzlich ausgehebelt. Nur auf zwei Dinge war Verlass: Das eine waren die Supermärkte, die offen hatten, das andere die Bahn, die einfach weiterfuhr, obwohl die Züge leer waren. Das war schon ein starkes Signal, das mit einem Sympathiegewinn einherging: "Du kannst immer mit uns rechnen."
ZEIT ONLINE: Wird die Beziehung der Deutschen zur Bahn jetzt erwachsener, weil es mit dem Kampf gegen den Klimawandel um die ganz große Sache geht?
Grünewald: Es stimmt, dieser unausgesprochene Pakt zwischen Bahn und Reisenden [Link nur für registrierte und freigeschaltete Mitglieder sichtbar. Jetzt registrieren...]. Das könnte dann manche Enttäuschung der Reisenden lindern.
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