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Von unterwegs gesendet / Innsbruck:

Kurs auf die Hungerburg



Eine Kolumne von Christine Lemke-Matwey

Nur Fliegen ist schöner: Von Kaiserschmarrn, kinetischer Architektur und sportlichen Mutterfreuden

13. Januar 2021 DIE ZEIT Nr. 3/2021, 14. Januar 2021

Neuerdings träume ich vom Skispringen, vom Skispringen mit Zaha Hadid. Ich stehe auf der Bergisel-Schanze, vor mir liegt das Karwendel-Gebirge mit Gipfeln, die "Frau Hitt" heißen oder "Großer Bettelwurf", unter mir schmurgelt Innsbruck in seinem Saft. Ich stoße mich vom Startbalken ab und gleite in die Anlaufhocke, die Glaskeramikschindeln unter meinen Brettern zischen, und kaum hebe ich vom Schanzentisch ab, saugt sich ein sattes Luftpolster zwischen Leib und Skiern fest. Wie Fräulein Holle auf ihrem schönsten Plumeau segle ich durch die Lüfte, tollkühn, schwerelos, vollkommen angstfrei. Erst als ich am Boden das Goldene Dachl in der Sonne blitzen sehe und Kurs auf die Hungerburg nehme, beginne ich mich leise zu wundern: Wo bleibt eigentlich die Landung?

Meist bricht der Traum an dieser Stelle ab. Daher weiß ich nicht, ob es mir vergönnt ist, die Flugrichtung zu ändern und an den Ort meines Draufgängerinnentums zurückzukehren, ins Bergisel-Stadion, um dort einen sauberen Telemark zu setzen (vorschriftsmäßige Landung mit einer Schuhlänge Differenz zwischen Spitze Hinterschuh und Ferse Vorderschuh). Oder ob ich über kurz oder lang doch an der Bergstation der Hungerburgbahn zerschelle. Die Hungerburg heißt Hungerburg, weil es hier im frühen 19. Jahrhundert eine Jausenstation mit sprichwörtlich kärglichem Angebot gab. Heute ist nicht nur in Österreich bekanntlich eher das Gegenteil ein Problem. Doch "Homemade cut up Pancake with Apple Sauce" (alias Kaiserschmarrn) oder fetttriefende "Tyrolean Gröstl" hin, Tourismuskonzepte 4.0 her – was sich an Traumata in unsere Sprache eingräbt, spuckt sie meist so schnell nicht wieder aus.

Anfang der Zweitausenderjahre waren vor allem jene Hungerburgerinnen Label und Namen leid, die ihre Familien tagtäglich mit gesunder mediterraner Vollkost bekochten. Also sorgten sie dafür, dass die britisch-irakische Architektin Zaha Hadid – eine Frau mit Haaren auf den Zähnen! – gleich zwei Großwettbewerbe in der Landeshauptstadt gewann: den für den Relaunch der Bergisel-Schanze und den für die vier Stationen der neuen Hungerburgbahn quasi gegenüber. Innsbruck in der Zaha-Zange, es wäre doch gelacht, fachsimpelten die Hungerburgerinnen, wenn solche alpin-urban-kinetisch-fluiden Baukünste keinen Geistesfortschritt erzeugten. Die Bahn mit ihren gletschersegelartig ins Inntal ausgreifenden Dächern und Entrees; die Schanze, die sich gleichsam um ihren Sprungturm wickelt und zuoberst ein Restaurant (Couscous Bowl ohne Hühnerbrust 12,80 Euro) und eine Aussichtsplattform gebiert!

"Keine neue Welt ohne neue Sprache", lautet der berühmte Ingeborg-Bachmann-Satz, den die Hungerburgerinnen natürlich kannten.

Doch ach, fast 20 Jahre später ist Zaha Hadid tot und die Desillusionierung perfekt. Die Hungerburg heißt weiter Hungerburg, und in Sachen Traumabewältigung haben jetzt die Russen die Nase vorn. In Moskau nämlich dürfen seit 1. Januar auch Frauen U-Bahnen steuern (wir berichteten). Das Argument, die Arbeit sei körperlich zu schwer und würde die – ehedem sowjetische – Geburtenrate unerwünscht senken, hatte nach 80 Jahren ausgedient. Zur Feier des emanzipatorischen Aktes brachte die Metro eigens eine Barbie auf den Markt, blonder Pferdeschwanz, strammblaue Uniform, High Heels. "Du kannst alles erreichen, was du willst", steht auf der Verpackung.

In Innsbruck hingegen wird es bis auf Weiteres weder eine Skispringerinnen-Barbie geben noch eine Schanzentournee für Frauen. Was Gian Franco Kasper, 76, der amtierende Präsident des Internationalen Skiverbandes, einst auf die Frage zu Protokoll gab, warum das schwache Geschlecht sich besser nicht kopfüber und auf Skiern von 50 Meter hohen Türmen stürzen sollte, scheint bis heute durch die Köpfe der Funktionäre und TV-Rechte-Wärter zu spuken: weil der Uterus junger Springerinnen bei der Landung "platzen" könne. Diese Sorge nahm sich die Sport Bild nun dezent zu Herzen und porträtierte aus Anlass des Männer-Vierschanzentournee-Finales 2021 die Frauen der Skispringer: die "hübsche Polin" Ewa Bilan-Stoch, die Blondine Karoline, mit der der Norweger Halvor Egner Granerud zusammenlebt, und Markus Eisenbichlers Andrea, die auch ohne weiteres Adjektiv sehr, sehr glücklich ist.

Bei Marta Kubacki und Franziska "Franzi" Geiger wiederum haben die Uteri die Produktion bereits aufgenommen. Die beiden brachten im Dezember gesunde Kinder zur Welt, zwei süße Mädels, Zuzanna und Luisa. Die Geburtenrate im Skizirkus ist also gerettet, die Zukunft weiblich, und wenn es bald eh keinen Schnee mehr gibt, träume ich eben von etwas anderem.

Quelle:

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Eine Kolumne, die mir auch wegen der Fähigkeit des besonderen sprachlichen Ausdrucks gut gefällt.