Willkommen |
|
myGully |
|
Links |
|
Forum |
|
|
|
 |
21.03.21, 11:00
|
#1
|
Super Moderator
Registriert seit: Oct 2012
Beiträge: 8.047
Bedankt: 9.594
|
Die Internetschule
Zitat:
Alternative Schulen
Die Internetschule
Karina Köster ist von der Schulpflicht befreit und lernt schon lange von zu Hause aus. Ihre Schulleiterin weiß, wie Homeschooling auch nach der Pandemie gelingen kann.
Von [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] 12. März 2021, 9:23 Uhr

Die Lehrerin Julia Radunski und ihre Schülerin Karina Köster: Beide waren schon vor der Pandemie im Homeschooling. © Stefan Schejok
Balou habe es zuerst gespürt, da ist sich Karina Köster sicher. Ihr Pferd merkte, dass etwas nicht stimmte, dass sie Angst hatte. Wer etwas zu verbergen hat, sollte sich vor Pferden fernhalten, heißt es. Tatsächlich können laut japanischen Wissenschaftlern von der Universität Hokkaido die Tiere erfühlen, wenn Menschen aufgeregt sind. Wie Balou eben. Das war vor etwa zwei Jahren. Als langsam, aber heftig die Schwere in Karina hochkam, die Gewissheit, nicht aufstehen zu können, wenn es morgens zur Schule gehen sollte. Bauchschmerzen, Weinkrämpfe, Erbrechen und Panikattacken kamen dazu. "Mein Pferd wollte auf einmal nicht mehr mit mir springen. Es wusste, dass etwas nicht stimmte", erzählt die heute 16-Jährige. Ihr Gang zum Stall ist seitdem an vielen Tagen der einzige Weg aus dem Haus ihrer Eltern. "In der Schule ist nichts vorgefallen. Ich konnte dort nur nicht mehr hingehen", sagt sie. Die Jugendliche leidet unter einer unspezifischen Angststörung.

Karina Köster und ihr Pferd – ihr großes Hobby © privat
Die Schule besucht sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr, unterrichtet wird sie zu Hause, Wochen, bevor es in der Pandemie bundesweit üblich wurde. Heimunterricht ist in Deutschland eigentlich untersagt, es gilt die Präsenzpflicht in der Schule. Nur wenige Kinder haben eine Sondergenehmigung: Junge Menschen mit Behinderungen, Kinderstars, Betroffene von Mobbing oder Kinder, die an psychischen Erkrankungen leiden. Kinder wie Karina. Sie besucht nun die web-individualschule aus Bochum. 200 andere Schülerinnen und Schüler gibt es dort, die rein digital unterrichtet werden. Seit dem Jahr 2006 ist die Lehranstalt als Fernschule anerkannt.
Prominente Schüler wie Bill und Tom Kaulitz
Um hier angenommen zu werden, braucht es einen triftigen Grund. In der Regel haben die Schülerinnen und Schüler schwere psychische Störungen, die es ihnen unmöglich machen, eine reguläre Schule zu besuchen. "Allein 40 Prozent der Kinder stammen aus dem Autismus-Asperger-Spektrum, sie haben Sozialphobien oder Depressionen", sagt die Schulleiterin Sarah Lichtenberger. Letztlich entscheidet das Schulamt nach ärztlichem Befund, ob ein Kind für die Schule zugelassen wird. Die Schulkosten von 910 Euro monatlich übernimmt in den meisten Fällen das Jugendamt.
Vor 15 Jahren übernahm Lichtenberger, heute 40 Jahre alt und selbst zweifache Mutter, die Fernschule von ihrem Vater. Lichtenberger machte sie durch berühmte Schüler wie die Zwillinge Bill und Tom Kaulitz von der Band Tokio Hotel in den Nullerjahren deutschlandweit bekannt. Zuvor hatte die Schulleiterin der Mutter der beiden Teenie-Stars eine Mail geschrieben, ob die web-individualschule für ihre Söhne infrage kommen könnte.
Die Brüder waren damals zu prominent für eine normale Beschulung, Groupies campierten am Schulzaun. Das Lernen per Webcam war für die beiden die einzige Möglichkeit, überhaupt ihren Realschulabschluss zu machen. "Als mein Vater die Schule in den Neunzigern eröffnete, gab es ganz andere technische Probleme als heute", sagt Lichtenberger. Die damaligen Router fielen oft aus, ein großer Teil der Haushalte hatte noch gar kein Internet. Oft musste der Unterricht über die Post und das Telefon funktionieren. Zwei Jahrzehnte später sind technische Schwierigkeiten kein Thema mehr.
25 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten die Kinder ausnahmslos digital, in sechs Kernfächern: Deutsch, Mathe, Englisch, Biologie, Erdkunde, Geschichte. Einige Schüler sehen die Pädagogen an jedem Wochentag, andere sind so schwer erkrankt, dass sie nur unregelmäßig Schule machen können. Die Lehrerinnen kommunizieren mit den Schülerinnen und Schülern einzeln über Videochat, gehen Aufgaben durch, besprechen Unklarheiten. Eine Schülerin, eine Lehrerin – so entsteht eine enge, gefestigte Beziehung für das Lernen. In der Regel haben die Kinder zwei bis sechs Stunden Videounterricht am Tag. Dann machen sie selbstständig Übungen, jeder in seinem eigenen Tempo. "Manche sind so krank, dass sie eine Stunde schaffen und dann erst einmal lange schlafen müssen, andere wollen sechs Stunden am Tag lernen", sagt Lichtenberger. Die Lehrerinnen und Lehrer richteten sich danach.
Auch in der web-individualschule gibt es Arbeitsgemeinschaften von Schülerinnen und Schülern – nur eben per Video. Eine Gruppe bringt eine Schülerzeitung heraus, eine weitere baut einen Roboter, der im 3-D-Druck erstellt wird, wieder andere tauschen sich über den Schulstoff aus oder über ihre Freizeit. Der Großteil sei allerdings allein und habe keinen Kontakt zu Mitschülern. "Gerade unsere Jugendlichen mit Autismus-Diagnosen fallen da raus", erklärt Lichtenberger. Für ein Drittel der Schüler sei der Kontakt zu den anderen aber motivierend.
Ihre Methode sieht Lichtenberger als Vorbild für eine digitale Schulreform, gerade jetzt in der Pandemie. "Warum sollte man im Homeschooling zwölf Fächern, darunter Kunst und Sport, gerecht werden wollen", wundert sie sich. Konzentration auf die prüfungsrelevanten Fächer findet sie wichtiger, Kunst und Sport könnten im Zweifel dann komplett wegfallen oder in die Freizeit ausgelagert werden. Momentan seien ohnehin Massen an Lernstoff nachzuholen. Den Schulen würde sie ganz konkret ein digitales Klassenzimmer empfehlen. Morgens klicken sich die Kinder mit ihrem Laptop in einen virtuellen Raum hinein, die Klassenlehrerin macht dann zum Beispiel zwei Stunden Deutsch mit ihnen, danach kommt die Mathelehrerin in den Raum. Die Schüler bleiben so virtuell immer zusammen.
Jeder Schüler lernt in seinem Tempo – manchmal nur einmal die Woche
"Ich sehe, wie meine ältere Tochter an einer Regelschule lernt und wie wenig Kontakt sie da mit den Lehrern hat. Da besteht kaum Kommunikation mit der Schule. Da frage ich mich: Warum wird nicht mehr telefoniert, gesprochen, mal spazieren gegangen?", sagt Lichtenberger. Mit den Kindern im Gespräch zu bleiben, sei wesentlich wichtiger für den Lernfortschritt als das sture Bearbeiten von Arbeitsblättern, wie es oft der Fall sei.
Für Karina Köster ist an diesem Morgen das Fach Geschichte dran. Die Jugendliche sitzt mit glatt gekämmten Haaren und großer Ruhe vor ihrer Webcam, um sie herum ein typisches Kinderzimmer mit Spielzeug in den Regalen. Mit ihrer Lehrerin bespricht sie den erledigten und künftigen Stoff. Ihre Aufgaben hat Karina in sauberer Füllerschrift auf Papier geschrieben und eingescannt. Antworten auf Fragen zur Weimarer Republik, Gründe für das Scheitern der Demokratie, die Weltwirtschaftskrise. Die Bildschirmteilung macht das gemeinsame Anschauen und Korrigieren möglich. Die meiste Zeit aber lernt Karina selbstständig und allein. "Ich muss mir die Woche in Aufgaben und Fächer aufteilen, heute Deutsch, morgen Mathe, dann weiß ich, was ich jeden Tag schaffen muss", sagt Köster. Und: "Ohne Struktur geht gar nichts."
Die besondere und intensive Beziehung, die die Kinder durch das Homeschooling zu ihren Lehrern aufbauen, sieht Lichtenberger als Chance, die jungen Menschen zu inspirieren. Oft hätte ihr Team in der Vergangenheit Kinder und Jugendliche unterrichtet, die aufgrund ihrer Krankheit am regulären Schulsystem komplett gemauert hätten: "In solchen Fällen kann es Monate dauern, bis sie aufmachen und Lust am Lernen entwickeln." In solchen Fällen machten die Lehrkräfte nichts anderes, als da zu sein, ansprechbar. "Wir warten ab, bis das Kind geistig auf uns zukommt", sagt Lichtenberger. Eine große Chance für Kinder im Fernunterricht sei, dass der Druck, den sonst die Schule vorgebe, weg sei. "Jeder Schüler lernt in seinem eigenen Tempo und baut auf den vorhandenen Fähigkeiten auf." Das aktuelle Homeschooling kann laut Lichtenberger für viele Kinder die Möglichkeit sein, den Schulstoff aufzuholen und wieder Freude am Lernen zu haben.

Schulleiterin Sarah Lichtenberger weiß, wie Homeschooling gut funktioniert. © Stefan Schejok
Gleichzeitig ist das für Lehrerinnen und Lehrer eine besondere Situation, mit den Schülerinnen und Schülern zu arbeiten. Denn dort, wo schwer kranke Kinder beschult werden, bleiben Geschichten mit tragischem Ausgang nicht aus. "Was macht man, wenn ein krebskranker Schüler auf einmal nicht mehr am Web-Unterricht teilnehmen kann?", fragt sie. Das seien die traurigsten Momente, in denen ihr Team gemeinsam Coaching und psychologische Hilfe in Anspruch nimmt.
Ein Fall von Mobbing, der in Erinnerung blieb
Der Zusammenhalt der Lehrerinnen und Lehrer und das Aufpassen aufeinander gehört für die Leiterin zum Unternehmenskonzept. Momentan arbeitet die Hälfte der Lehrerinnen von zu Hause aus. Im Büro der Web-Schule in Bochum steht ein Kickertisch für die Mitarbeitenden, eine Kletterwand, ein Boxsack, "wenn man mal fluchen oder heulen möchte". Das sei es, was die sehr persönliche Verbindung zwischen Lehrern und ihren Schützlingen eben auch mitbringt, sagt die Chefin *– echte Betroffenheit, das Miterleben der schwierigsten, dunkelsten Lebensphasen in den Familien. "Die schlimmste Erfahrung war sicherlich der Tag, als ich auf die Beerdigung einer unserer Schülerinnen gehen musste", sagt Lichtenberger. Die Jugendliche habe Suizid begangen.
An einen sehr *******n Fall von Mobbing erinnert sich die Schulleiterin auch noch gut. Ein Mädchen sei in seiner früheren Schule von Mitschülern gezwungen worden, einen Muffin zu essen. Alle ihre Klassenkameraden hatten darauf gespuckt. Damit das Kind in der Folge an die Web-Schule gehen kann, gründete die Schulleiterin einen Förderverein, um die Gebühren zusammenzubekommen. Bislang haben es laut Lichtenberger rund 500 Schülerinnen und Schüler, fast alle im Laufe der Jahre zu einem Real- oder Hauptschulabschluss, manche auch bis zum Abitur gebracht. In der Regel bleiben sie vier bis fünf Jahre an der Web-Schule, nur selten kommt es zu einer Reintegration in das klassische Schulsystem.
Und auch für Karina Köster endet im Sommer die Schulzeit, mit der mittleren Reife. Dann will sie erst einmal anstoßen im Familienkreis und sich in Ruhe überlegen, was sie machen möchte. "Wahrscheinlich Abitur", sagt sie. Erst als es wieder um ihr Pferd Balou geht, erzählt die Schülerin mehr. Dass sie wieder Turniere reiten möchte, sobald es nach der Pandemie wieder möglich ist. Dass sie versucht, jeden Tag in den Reitstall zu kommen, um sich und ihr Pferd zu bewegen. Mittlerweile, sagt sie fast nebenbei, springen sie auch wieder zusammen.
|
[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
|
|
|
Folgendes Mitglied bedankte sich bei Draalz:
|
|
Forumregeln
|
Du kannst keine neue Themen eröffnen
Du kannst keine Antworten verfassen
Du kannst keine Anhänge posten
Du kannst nicht deine Beiträge editieren
HTML-Code ist Aus.
|
|
|
Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 17:16 Uhr.
().
|