Willkommen |
|
myGully |
|
Links |
|
Forum |
|
|
|
05.05.20, 22:20
|
#1
|
Silent Running
Registriert seit: Feb 2010
Beiträge: 7.191
Bedankt: 22.375
|
Verschwörungstheorien - Meine Vorfahren, die Aliens
Zitat:
Verschwörungstheorien
Meine Vorfahren, die Aliens
Ost gegen West, Außerirdische gegen Menschen, Regierungen gegen Bürger. Verschwörungstheorien entstehen aus Angst um die Zerbrechlichkeit unseres menschlichen Daseins.
Von Rabab Haidar
5. Mai 2020, 20:04 Uhr

Gerade wieder sehr en vogue: die Theorie, wonach Außerirdische die menschlichen Zivilisationen erschufen. © Photo by Brian McMahon/unsplash.com
Ohne mit der Wimper zu zucken versichere ich dem vielleicht 30-jährigen Amerikaner, der mir in der schummrigen Kneipe in Berlin gegenübersitzt: "Ja, natürlich wissen wir – die Syrer*innen –, dass Außerirdische und Reptiliengötter die Menschen erschaffen haben.
Selbstverständlich findet sich das alles in unseren Ruinen. Wie auch in der alten assyrischen Handschrift, die in der Wüste, in der Nähe unserer Zelte entdeckt wurde. Und sogar auf den noch älteren Tontafeln unserer alten Nachbarn in Mesopotamien, dem heutigen Irak, wird es erwähnt!"
Diese Antwort musste sein, sonst hätte ich zugeschlagen: entweder mit dem Kopf gegen die Wand – die Wand meiner Frustration, meiner Ungeduld –, mit der Faust auf den Tisch, um danach aufzustehen und zu gehen, oder ihn, den Amerikaner, damit er aufsteht und geht!
Zitat:

Rabab Haider kommt aus Damaskus. Inzwischen arbeitet sie als Heinrich-Böll-Stipendiatin in Langenbroich als Übersetzerin, Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie ist Mitglied des Syrian Women Network und Gastautorin von "10 nach 8". © privat
|
Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen. Bei unserem Treffen hatte er mir erklärt, nichts über die Geschichte des Krieges in Syrien zu wissen. "Das ist doch gut, er wird mich von meiner eigenen Geschichte und meinen schmerzvollen Erinnerungen ablenken", überredete ich mich und ging abends mit ihm essen.
Unser Gespräch lief von Anfang an schief. Er äußerte Zweifel an unserem Lebensstil in Syrien und steckte sämtliche Menschen aus dem Nahen Osten in dieselbe kleine Schublade, in die wir seiner Meinung nach alle passten.
"Aber man kann weder Syrien noch irgendeine andere Gesellschaft auf Einzeiler reduzieren! – Vielmehr machen soziale, wirtschaftliche und bildungspolitische Aspekte große Unterschiede aus. – Trotzdem sind Künstler*innen und Schriftsteller*innen, wie überhaupt alle von einer Gesellschaft geprägten Menschen, freie Akteur*innen in eben dieser Gesellschaft …!"
Meine Argumente blieben ungehört, und der Amerikaner beharrte auf seiner düster-salzigen Disney-Fassung des Nahen Ostens. Beim Versuch, meiner Argumentation durch die Ausweitung auf die Politik Gewicht zu verleihen, zückte ich die geläufige westliche Vorstellung vom Osten als "das Andere" und die östliche Vorstellung vom Westen als "das Andere".
Das beste Beispiel ist George W. Bush, der mit seinem Krieg gegen die "Achse des Bösen" die Welt ganz offiziell in "die Bösen" und "die Guten" teilte, als wären wir in einem verdammten Superheldenfilm! Doch der verspannte Amerikaner mit dem kantigen Kinn ließ von seinem Hollywood-Blick auf den Nahen Osten nicht ab. Dann kam der letzte Tropfen: die Theorie über weltbeherrschende Reptiloide und Außerirdische, die menschliche Zivilisationen erschufen.
"Also gut", dachte ich, "um Ra'as Willen, spielen wir halt dieses Spielchen!"
Er leerte den zweiten Whisky Sour, und ich beobachtete geduldig die Anspannung in seinen Schultern und Armen, während er mir diese Geheimnisse offenbarte. In aller Seelenruhe lehnte ich mich auf meinem antiken Holzstuhl zurück – einer von denen, auf die sie in Berliner Cafés und Kneipen so stolz sind – und spielte also mit. Ich erfand eine Geschichte mit verlassenen Ruinen und heiligen Zeichnungen, Geheimwissen, vom Sand geschluckten Festungen, Machos
und dem verborgenen Leben in den Harems: Hier bin ich, der mystische sexy Orient, der Zauber des magischen Ostens, Anhänger der Legende von Henoch, ich bin das Andere, das Entlegene, die Lust, die Macht, die Schwäche, die Angst!
Ausgangspunkt ist immer die Ideologie des "Andersseins"
Immer weiter entfernte ich mich von meiner eigenen Geschichte: die ältere Tochter einer starken, unabhängigen Mutter und eines liberalen Vaters und deren intellektuellen Freund*innen im Syrien der Achtzigerjahre, eine Leseratte; Eigenschaften, die mich immer weiter vom "normalen" syrischen Leben entfernen würden. Ich bin die autodidaktische Kartenlegerin, das Ergebnis von Langeweile, gescheiterten Beziehungen und einer soliden Internetverbindung, die YouTube zur einzigen erträglichen Ablenkung macht.
Vor Verschwörungstheorien �* la "Außerirdische haben die Menschheit entworfen" oder "Die Illuminaten wollen uns alle versklaven" sorgte in meiner Heimat der Lehrplan der Schule dafür, dass ich in eine tiefer wurzelnde Verschwörungstheorie eingeführt wurde: Der globale Imperialismus versucht, die Welt zu erobern!
In der Schule sollte uns das Komplott der "Bösen und des Imperialismus, die sich gegen die Menschheit im Allgemeinen und uns im Besonderen verschwören", gelehrt werden. Ein derart böser und komplizierter Plan, dass allein unser weiser und geliebter Diktator in der Lage ist, ihn zu durchkreuzen! Alle Diktatoren samt ihrer Anhänger*innen befinden sich in einer Art göttlichem Krieg gegen bösartige Feinde.
Dieser Theorie aber liegt die verbreitete Ideologie des "Andersseins" zugrunde, die auf falsche Überlegenheit hindeutet. Andersartigkeit, Überlegenheit und vermeintliches Heldentum: Diese Konzepte sind im Glaubenssystem von Fanatiker*innen und *******n Anhänger*innen gleich welcher Ideologie tief verwurzelt.
Und damit zu den Corona-Theorien, die vor allem von unbeantworteten Fragen und einem tieferen Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit unseres Daseins auf diesem Planeten befeuert werden.
Laut einer der Verschwörungstheorien ähnelt Corona einem Virusangriff aus dem Weltraum – das Coronavirus mit dem All zusammenzubringen, ist ein ganz besonderes Vergnügen! Woraufhin der Astrophysiker Neil deGrasse Tyson dem Reporter von TMZ – einer weiteren vergnüglichen Quelle überflüssiger Informationen – ganz ernsthaft antwortet und erklärt, das Virus stamme von der Erde, denn es werde durch unsere irdische DNA aktiviert: "Käme ein Virus aus dem All zu uns auf die Erde, das keine DNA hat, wüsste es nicht, was es damit anfangen soll!", sagte Tyson.
Eine weitere, interessantere Idee stammt von David Icke (Verfechter der Reptiloiden- und Illuminatentheorie): Corona sei ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krieg gegen die Menschheit und ziele darauf ab, Individualität abzuschaffen und Bar- durch E-Geld zu ersetzen, wodurch wir alle zu Sklav*innen einer mysteriösen mächtigen Oberschicht würden. Und natürlich gibt es die ewige Theorie einer himmlischen Strafe für renitente Menschen, die in allen Religionen verbreitet ist, egal an welchen Gott oder welche Götter man glauben mag.
Warum glauben wir an Verschwörungstheorien? Ost gegen West, Außerirdische gegen Menschen, Himmel gegen Erde, Regierungen gegen Bürger*innen, Bürger*innen gegen einander! Warum diese immer wieder aufkeimenden Ideen?
Den Kern einer Verschwörungstheorie bildet das Misstrauen gegenüber der Politik – obwohl Behörden ihre Zensur in Zeiten nationaler Krisen und kollektiver Angst am besten durchsetzen können. Verschwörungstheorien könnten aber auch das Ergebnis unserer Angst sein, der Versuch, Wissen und damit Stabilität zu erlangen. Oder sie sind ganz einfach "alternative Fakten", mit denen wir Informationslücken füllen und uns in unserer Unsicherheit beruhigen.
Alle, auch die Theorien rund um die Corona-Pandemie, betonen eine Tatsache: das Wissen um die Zerbrechlichkeit unseres kostbaren menschlichen Daseins. Ehrfürchtig sehen wir der Natur dabei zu, wie sie nach einer menschengemachten Katastrophe wie in Tschernobyl verlassene Orte zurückerobert. Ehrfürchtig sehen wir einem Baby dabei zu, wie es heranwächst, oder einem menschlichen Körper, wie er einer Krankheit Widerstand leistet und sich erholt.
Das Leben braucht weder Außerirdische noch heilige Kriege.
Doch zurück zu dem Amerikaner, der mir noch immer gegenübersitzt, inzwischen beim vierten Whisky Sour und noch betrunkener, noch schwerer auf seinem Stuhl: Müsste ich mich für eine Verschwörungstheorie entscheiden, ich fände die Alien-Theorie amüsanter, origineller und auf gewisse Weise weniger beleidigend.
Aus dem Englischen von Beatrice Fassbender
|
Quelle:
[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
|
|
|
Die folgenden 3 Mitglieder haben sich bei pauli8 bedankt:
|
|
Forumregeln
|
Du kannst keine neue Themen eröffnen
Du kannst keine Antworten verfassen
Du kannst keine Anhänge posten
Du kannst nicht deine Beiträge editieren
HTML-Code ist Aus.
|
|
|
Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 22:10 Uhr.
().
|