Willkommen |
|
myGully |
|
Links |
|
Forum |
|
|
|
17.02.20, 09:45
|
#1
|
Profi
Registriert seit: Jan 2014
Beiträge: 1.445
Bedankt: 3.349
|
Meinungsfreiheit: Warum die Menschen nicht mehr sagen, was sie wirklich denken
Zitat:
Meinungsfreiheit
Warum die Menschen nicht mehr sagen, was sie wirklich denken
Eine Mehrheit in der Mitte beteiligt sich nicht am öffentlichen Diskurs, um nicht in eine bestimmte Ecke geschoben zu werden. Die öffentlich geäußerte Meinung erscheint daher von *******n Positionen geprägt. Was tun?
Klimapolitik, Trump, Gendersternchen – in vielen Bereichen gilt die öffentliche Meinung als polarisiert. Allerdings entspricht die Polarisierung der öffentlichen Meinung selten einer Polarisierung der Gesellschaft. Eine Mehrheit in der Mitte beteiligt sich nicht am Diskurs, um nicht in eine bestimmte Ecke geschoben zu werden.
Im öffentlichen Diskurs äußern die Bürger nicht immer ihre tatsächlichen Präferenzen und Wertungen. Das Phänomen der Präferenzverfälschung ist aus autoritären Staaten wohlbekannt – die öffentlichen Huldigungen gegenüber den Herrschern entsprechen selten den unausgesprochenen, privaten Ansichten der Bürger. Selbst in der liberalen Demokratie kann dieses Phänomen nicht ausgeschlossen werden, vielmehr ist es zu erwarten.
Ob der einzelne Bürger seine privat gehaltenen Präferenzen öffentlich kundtut und am Prozess der kollektiven Willensbildung teilnimmt, hängt vom Zusammenspiel dreier Abwägungen ab. Einerseits kann der Einzelne einen direkten Nutzen daraus ziehen, sich besonders expressiv zu verhalten und seine Position vehement zu vertreten. Darüber hinaus spielt der intrinsische Nutzen eine Rolle, den ein Bürger dann hat, wenn eine seinen tatsächlichen Präferenzen entsprechende politische Entscheidung aufgrund der vorangegangenen öffentlichen Meinungsbildung zustande kommt. Zuletzt spielt im öffentlichen Diskurs insbesondere die soziale Anerkennung oder Ächtung eine Rolle, die einem Bürger widerfährt, wenn er eine bestimmte Ansicht öffentlich vertritt.
Der einzelne hat im Regelfall einen vernachlässigbar kleinen Einfluss auf die öffentliche Meinung, und die öffentliche Meinung führt – wenn überhaupt – nur verzögert zu Politikentscheidungen. Daher spielen bei der Abwägung, sich öffentlich zu äußern, vor allem eine mögliche soziale Ächtung sowie der Wunsch, sich expressiv zu verhalten, relevante Rollen.
So wird sich der durchschnittliche Pendler derzeit eher hüten, öffentlich für niedrigere Belastungen für den Automobilverkehr einzutreten, selbst wenn dies seine private Meinung ist. Er kann die öffentliche Meinung kaum beeinflussen. Öffentlich möchte er nicht als „Umweltsau“ dastehen, nur weil er weiter mit dem Auto pendeln will. Um der Gefahr öffentlicher Ächtung zu entgehen, wird er schweigen oder sogar behaupten, er wäre für den ÖPNV, wenn dieser denn regelmäßiger aufs Dorf käme und günstiger wäre. Aus Angst vor sozialer Ächtung nimmt er davon Abstand, seine Präferenzen wahrheitsgemäß kundzutun.
Ähnlich mögen manche Bürger gewisse Elemente der amerikanischen Politik, wie zum Beispiel die Steuersenkungen, auch in Deutschland als wünschenswert betrachten. Die amerikanischen Steuersenkungen öffentlich als vorbildlich zu loben, dürfte eher nicht zu sozialer Anerkennung führen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass einzelne sich expressiv verhalten und ihre private Meinung ohne große Berücksichtigung sozialer Anerkennung oder Ächtung bekannt geben: Für manche*n geht es ohne Gender* absolut nicht – für andere verhunzt es die geschriebene Sprache. Exponenten beider Gruppen stehen auch öffentlich zu ihrer Meinung.
Die schweigende Mehrheit
Soziale Ächtung einer öffentlich vertretenen Meinung hängt davon ab, wie viele andere Gesellschaftsmitglieder diese Meinung öffentlich vertreten. Viele Bürger schätzen eine intakte Umwelt, aber sie wollen auch günstig und möglichst ungehindert Auto fahren. Ebenso schätzen die meisten den Wert der Gleichberechtigung von Frau und Mann als sehr hoch ein, aber sie sehen nicht, wie das Gendersternchen spezifisch dazu beitragen soll oder ob es gar Geschlechterunterschiede akzentuiert, wo gar keine sind. Sie alle tendieren dazu, im öffentlichen Diskurs zu schweigen und ihre wahren Präferenzen zu verfälschen.
Ein hoher Grad an allgemeiner Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit muss nicht bestehen bleiben. Einzelne Vorkommnisse können dazu führen, dass bestehende öffentliche Meinungsmonopole brechen, insbesondere wenn für größere Gruppen echte Kosten drohen. Die Gelbwestenbewegung in Frankreich formierte sich wegen einer geplanten höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe. Die private Präferenz vieler Franzosen ist, nicht zu tief für Treibstoff in die Tasche greifen zu müssen.
In Deutschland sammelte die Gruppe „Fridays for Hubraum“, die sich für den automobilen Individualverkehr einsetzt, innerhalb weniger Tage bei Facebook ein Vielfaches der Mitglieder von „Fridays for Future“. Unter Umständen können bereits die öffentlich geäußerten Meinungen einer kleinen Zahl von Bürgern dazu ausreichen, andere zu überzeugen, sich ebenfalls gemäß ihren wahren Präferenzen zu äußern. Diese Sichtweise entspricht der Einsicht, die dem bekannten Märchen von Hans Christian Andersen zugrunde liegt: Es bedurfte nur eines Kindes, das wahrheitsgemäß äußerte, der Kaiser wäre nackt, damit alle Bürger öffentlich das äußerten, was sie insgeheim wussten – der Kaiser ist nackt.
Die Anreize sich öffentlich zu äußern sind allerdings vor allem für jene besonders hoch, die sich sehr expressiv verhalten wollen, stark eindimensional denken oder bewusst polarisieren. Wer ohnehin *******re Positionen vertritt, wagt es eher, sich überhaupt zu äußern. Die Polarisierung der öffentlichen Meinung kommt zustande, weil die Mehrheit in der Mitte ihre wahren Präferenzen verfälscht oder schweigt. Die Gesellschaft selbst ist aber nicht polarisiert, sondern jene, die sich eher äußern, sind diejenigen, die oft polarisierende Positionen einnehmen.
Etablierte Medien tragen indirekt zur Polarisierung bei. Zum einen sind ******* Positionen oft spannender und damit berichtenswerter als moderate Positionen, die versuchen der Komplexität und Vielfalt der Präferenzen in der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Zu anderen äußern sich wenige von denen, die in der Mitte stehen, genau weil sie Angst haben zu pointiert dargestellt und falsch verstanden zu werden.
Lieber schweigen viele, als nach ihrer öffentlichen Meinungsäußerung ein „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ hinzuzufügen. Die öffentlich geäußerte Meinung erscheint daher von *******n Positionen geprägt. Durch die Filterblasen der sozialen Medien, wird die Polarisierung der öffentlichen Meinung weiter verstärkt. Wiederum nehmen große Teile der Bevölkerung an politischen Diskursen in den sozialen Medien deshalb überhaupt nicht teil. Sie posten Urlaubsbilder oder Videos von Katzenbabys.
Private Entscheidungen stärken
Um das Auseinanderfallen von privaten Präferenzen und lügenhafter, polarisierter Öffentlichkeit zu vermeiden, ist die Forderung nach einem „freien öffentlichen Diskurs“ unfruchtbar. Öffentliche Aussagen werden immer kategorisiert werden. Vielmehr braucht es institutionelle Arrangements, die es jedem einzelnen Bürger erlauben, gesellschaftswirksam für das einzustehen, was er privat für richtig hält, ohne soziale Ächtung zu erfahren.
Geheime Wahlen in der Demokratie sind ein solches Arrangement, und sie sind immer wieder für Überraschungen gut. Ein weiteres Arrangement ist Bürgerbeteiligung im Sinne echter, bindender Bürgerentscheide. Die schweigende Mehrheit erhält dadurch eine Stimme bei Sachentscheidungen, und es wird rentierlicher, Kompromisse in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Aber Vorsicht! Manche, die heute allzu gerne die öffentlichen Meinung machen und polarisieren, werden gegen Bürgerentscheide argumentieren, diese könnten zu „politisch inkorrekten“ Ergebnissen führen. Das ist in der Tat so, und dabei gesellschaftlich erwünscht.
|
[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
|
|
|
Die folgenden 5 Mitglieder haben sich bei Sonicsnail bedankt:
|
|
Forumregeln
|
Du kannst keine neue Themen eröffnen
Du kannst keine Antworten verfassen
Du kannst keine Anhänge posten
Du kannst nicht deine Beiträge editieren
HTML-Code ist Aus.
|
|
|
Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 05:35 Uhr.
().
|