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Internationaler Literaturpreis: Heftige Angst, heftige Liebe, heftige Mordlust
Zitat:
Internationaler Literaturpreis
Heftige Angst, heftige Liebe, heftige Mordlust
Der Roman "Saison der Wirbelstürme" von Fernanda Melchor ist mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet worden. Dass er alle überfordert, spricht nur für ihn.
Von [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
18. Juni 2019, 20:03 Uhr 5 Kommentare

Mut zur Zumutung: Fernanda Melchor hat ihn. © privat
In Berlin ist an diesem Dienstagabend vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen der Internationale Literaturpreis verliehen worden. Dotiert mit 20.000 Euro für die Autorin und 15.000 Euro für die Übersetzerin zeichnet er ein herausragendes Werk internationaler Gegenwartsliteratur und seine Erstübersetzung ins Deutsche aus. In diesem Jahr ging er an die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor und ihre deutsche Übersetzerin Angelica Ammar für den Roman "Saison der Wirbelstürme". In der Jury saßen bei dieser elften Ausgabe des Preises der Dramaturg Jens Hillje, der Schriftsteller Tobias Lehmkuhl, die Journalistin Verena Lueken, der Komparatist Daniel Medin, die Lektorin Elisabeth Ruge, die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel sowie der Autor und Übersetzer Robin Detje. Hier dokumentieren wir Detjes Laudatio auf Melchor und Ammar.
Ich bin überfordert. Alles andere wäre gelogen.
Ich glaube, wir waren in der Jury von der Saison der Wirbelstürme alle überfordert, haben alle gestockt und eine Weile nicht weiterlesen können. Und doch haben wir den Preis mit großer Entschlossenheit an dieses Buch und seine Übersetzung vergeben, gegen wirklich ungewöhnlich starke Konkurrenz.
Das ist vielleicht ein bisschen auch ein Bekenntnis zur Überforderung als literarisches Qualitätskriterium: Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert? Was haben wir von der Welt in den nächsten Jahrzehnten denn anderes zu erwarten als Überforderung und wie sollte eine Literatur, die uns nicht überfordert, so einer Welt gerecht werden? Warum sollten wir einer Literatur, die uns nicht überfordert, noch vertrauen?
"Das ist der Ausgang aus diesem Loch." So lautet der letzte Satz des Romans, dieser Chronik eines Todes, der immer wieder neu angekündigt und neu verhandelt wird. Das Loch ist die Welt, in dem die Romanfiguren leben. Sie sind, wie ein vorangestelltes Zitat des mexikanischen Schriftstellers Jorge Ibargüengoitia nahelegt, fiktiv. Aber "einige der hier erzählten Begebenheiten sind real". Die Autorin spielt reale Begebenheiten mit ihren Romanfiguren noch einmal durch.
"Das ist der Ausgang aus diesem Loch", diese Verheißung kommt ganz am Schluss, weil es – aus unserer Welt ebenso wie der Welt des Romans – lebendig keinen Ausgang gibt. Es ist ein Totengräber, der hier begütigend zu Leichen spricht, verstümmelten, schrecklich zugerichteten Leichen zum Teil, und es ist ein Stern am Firmament, den er ihnen als Ausweg empfiehlt. Mehr kann er nicht für sie tun, und er hat Angst, dass sie wiederkommen, wenn er ihnen keinen Ausweg zeigt.
Dann würden sich die an einem Mangel an Nahrung oder Liebe Verreckten, die Zerstückelten, die Niedergemetzelten mischen mit den Verreckenlassern, Zerstücklern und Niedermetzlern, und dann hätten sie selbst noch einmal Gelegenheit, ihre Mörder*innen verrecken zu lassen, zu zerstückeln oder niederzumetzeln.
Es gibt keine reinen Opfer in diesem Buch, nur auf zu engem Raum zusammengepferchte Menschen, die von ihren Trieben und Affekten, von ihren Ängsten und ihrem Aberglauben herumgeschleudert werden, die Gewalt erleben, sich in Gewaltphantasien flüchten oder gleich in Gewalt. Denn Gewalt schafft für einen kurzen Augenblick klare Verhältnisse, sie schafft Erleichterung und setzt einen Punkt.
Das Dorf La Matosa, in dem dieser Roman spielt, liegt in Mexiko in der Nähe von Veracruz, und dort gibt es eine Hexe, auf die die Dorfbewohner*innen ihre Ängste und Hoffnungen projizieren und die sie damit überfrachten, bis die Hexe ermordet aufgefunden wird. Der Roman spielt im 21. Jahrhundert, die Szene ist eine archaische Welt, wie sie die Entstehung der Stoa befördert haben muss, die Hoffnung an Freiheit von Leidenschaften und Gelassenheit als Grundlage der Kultur.
Alle Gefühle, alle Affekte sind gleich heftig, die Liebe ist heftig, die Angst ist heftig, die Mordlust ist heftig, und die Angst hilft der Liebe, in Mordlust umzuschlagen. Die Romanfiguren sind den eigenen Gefühlen ausgeliefert wie dem Wetter, sie arbeiten sich durch sie hindurch, sie wollen fort, ihrem Dorf entkommen, diesem Loch entkommen, sich selbst entkommen, sie humpeln ihren Trieben hinterher, wollen nicht dorthin, wo die Triebe schon sind, und müssen es doch, und sie hinterlassen dabei eine Spur der Verwüstung.
Keine Kapitalismuskritik, aber ein politischer Roman
Es sind, eher zufällig, Zentrifugalkräfte der Ölindustrie, denen die Romanfiguren in ihrem Dorf ausgesetzt sind, der Weltmärkte, und die Weltmärkte sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, Kultur haben. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, nicht verrecken. Und sie halten sich dabei selbst für hoch kultiviert.
Die Saison der Wirbelstürme ist kein Roman, der sich Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat. Aber er verdient diesen Preis trotzdem als politischer Roman. Hier wird auf schmerzhaft intensive Weise ein Notstand beschrieben, ohne dass dieser Notstand jemals explizit benannt wird.
Fernanda Melchors Romanfiguren haben keinen Zugang zu Kultur, keinen Zugang zu Bildung, keinen Zugang zu dem Geld, das ihnen beides verschaffen könnte. Sie haben keine Möglichkeit, sich aus ihrem Loch zu befreien und in Würde zu leben. Und: Es ist eine weit entwickelte, hoch komplizierte Zivilisation, die diese Menschen in diesen vorzivilisatorischen Zustand zurückgestoßen hat und sie dort gefangen hält.
Eine zivilisierte Welt jenseits des mexikanischen Dorfes La Matosa kommt im Buch nicht vor. Verantwortliche für das Elend dort gehören nicht zum Personal und werden von der Autorin nicht benannt. Mitten in ihrem ultradichten Roman klafft eine gigantische Leerstelle. Die Verantwortung, sie zu füllen, überlässt sie uns. Das ist unser Auftrag.
Diese Leerstelle des Romans ist im Grunde noch grausamer und noch schauriger als alle Schmerzen und alles Leid, die er uns so mitleidlos vor Augen führt. Und gleichzeitig gilt im Grunde, dass die für all diese erzählten Grausamkeiten Verantwortlichen über ihr Fehlen, ihr Nicht-Vorkommen realistisch beschrieben worden sind. So agieren sie ja im wirklichen Wirtschaftsleben: indem sie sich ihrer Verantwortung durch tausend Schlupflöcher entziehen und sich unsichtbar machen.
Genauigkeit ist eine Form der Liebe
Fernanda Melchor hat den Roman der Armut im Globalkapitalismus des 21. Jahrhunderts geschrieben, den Roman aus Armut geborener Gewalt gegen Frauen, gegen Homosexuelle, gegen Schwächere. Den Roman des gnadenlosen Kampfes der Schwächsten gegen noch Schwächere und gegen sich selbst. Den Roman einer Zerstörungskraft, der es egal ist, ob sie zur Selbstzerstörung wird, weil der Unterschied nicht mehr wichtig ist.
In der Mitleidlosigkeit, mit der Fernanda Melchor diese Figuren beschreibt, nicht nur in ihrer Verlorenheit, auch in ihrer ganzen Grausamkeit und Bösartigkeit, verbirgt sich eine höhere Form des Mitleids, verbirgt sich die eigentliche Barmherzigkeit. Genauigkeit ist eine Form der Liebe. Erst nicht hinsehen wäre wirklich unbarmherzig. Diese Romanfiguren sind auf Suche nach Würde, auf der Suche nach dem Glück, und ihre Armut treibt sie ins Verbrechen, in die Polizeifolter, in die Grube des Totengräbers: "Das kleine Licht, das aussieht wie ein Stern? Dorthin müsst ihr gehen, erklärte er ihnen, das ist der Ausgang aus diesem Loch."
Die Autorin macht die Lage auch für uns ausweglos: Sie schlingt uns in lange, nicht enden wollende Sätze ein, sie knotet uns in ihre Erzählung hinein, bis auch wir nicht mehr wissen, wohin. Sie gibt dem Unerträglichen eine Form: Die Schönheit dieser Sätze macht den Schrecken dessen, was sie erzählen, – fast – ganz erträglich.
Aber wer diesen Text als Übersetzer*in aufschlägt, lässt alle Hoffnung fahren. Endlose Satzperioden, kaum ein Absatz, keine Dialogpassagen, die einem eine Atempause schenken. Ein Textfluss von immer gleichbleibender Dichte, der gleichzeitig unter das Mikroskop gelegt und vom All aus betrachtet werden muss, vom Stern des Totengräbers aus vielleicht, damit weder die feinen Details verlorengehen noch die Gewalt des Ganzen. Das kann man nur übersetzen, wenn man Maulwurf und Adler zugleich ist.
Übersetzung nicht als schauturnerische Anstrengung
Angelica Ammar hat in ihrer Übersetzung einen Wort- und Bedeutungsteppich ausgebreitet, dem wir lesend immer vertrauen können und dessen Festigkeit nie nachlässt. Das ist eine ungeheure Leistung. Sie musste ihren Teppich weit aufspannen, er umfasst alle menschlichen Leidenschaften, auch die schmutzigsten – obwohl es reinliche Leidenschaften vielleicht sowieso nicht gibt. Sie musste dabei leider ins Deutsche übersetzen, eine Sprache, deren Fluchkultur ein wenig schwach auf der Brust ist und die sich mit lustvollen, geradezu inbrünstigen Verwünschungen schwertut. Und bei Fernanda Melchor wird wahrlich inbrünstig geflucht.
Unter vielen Herausforderungen dieses Originals ist Angelica Ammar mit großer Eleganz und Souveränität hindurchgetaucht, immer in vollem Verständnis des Textes, und das ist die einzig richtige Methode, wenn man vermeiden will, dass plötzlich die Übersetzung selbst als schauturnerische Anstrengung im Vordergrund steht. Das Übersetzen ist bei ihr ein auf wunderbare Weise unauffälliger Leistungssport.
Große Literatur versteckt irgendwo auch immer ein paar Metaphern für die eigene Methode, verewigt sie, manchmal unbemerkt, in einer dunklen Ecke. In Saison der Wirbelstürme wird gegen Ende enthüllt, wer die Hexe ermordet hat. Die Polizei verdächtigt und foltert den Täter und wirft ihn in eine Zelle zu anderen Gefolterten, die anderer Verbrechen verdächtig sind. Ein Mitgefangener zeigt ihm etwas:
"Sein Blick folgte dem mageren Zeigefinger des Typen, der auf die Zellenwand zeigte, vor der Brando saß und in die Namen und Spitznamen und Daten und Herzen und Schwänze und Mösen mythologischen Ausmaßes und alle möglichen abartigen Szenen eingeritzt worden waren, von denen sich eine aus roten Linien zusammengesetzte Zeichnung des Teufels abhob. Wie hatte er den übersehen können, als er in die Zelle kam? Diesen riesigen Dämon, der wie ein Herrscher über die Zelle wachte."
Es fällt nicht schwer, in der Zellenwand ein Bild für den ganzen Roman zu sehen, der Namen und Spitznamen und Daten und Herzen und Schwänze und Mösen mythologischen Ausmaßes und alle möglichen abartigen Szenen enthält, und Fernanda Melchor lässt sie alle gleichermaßen gelten, in ihrer Lust und in ihrem Schmerz. Und es gefällt mir, die Zeichnung des Teufels als Selbstporträt der Autorin zu deuten, dieser riesigen Dämonin, die wie eine Herrscherin über die Welt dieses Romans wacht. Wie sollte man die Autorinnenschaft über einen Roman auch besser beschreiben?
Gewalt in fast unerträglicher Intensität
Nichts fürchten wir mehr als die nackte Wahrheit. Niemanden hassen wir mehr, als die Überbringerin der nackten Wahrheit. Wir verteufeln sie oder bringen sie um. In Fernanda Melchors Danksagung tauchen die Journalisten Yolanda Ordaz und Gabriel Huge auf, die 2011 und 2012 in Mexiko gefoltert und geköpft wurden, aus Angst, sie könnten die nackte Wahrheit sagen. Wer die Wahrheit sagen will, kann schnell in Lebensgefahr geraten. Gewalt stellt Machtverhältnisse klar, schafft Erleichterung und setzt einen Punkt.
Sich selbst als Teufelin an die Wand zu malen, als Dämonin, als Herrscherin über Daten und Herzen, kommt mir klug vor im Angesicht solcher Gewalt.
Wir vergeben heute den Internationalen Literaturpreis in der von allen Reiseführern überschätzten Hauptstadt eines Landes auf einem kleinen, zunehmend unbedeutenden Kontinent, dessen historische Selbstüberschätzung mythologische Ausmaße hat und zu allen möglichen abartigen Szenen geführt hat. Hier in unserer kleinen Hauptstadt haben wir das Privileg, vor solcher Gewalt ungläubig und entrüstet den Kopf zu schütteln, als könnten wir sie mit diesem Kopfschütteln wegwischen. Wir müssen uns nicht damit auseinandersetzen, auch wenn wir uns in unserer Güte manchmal dazu herablassen, es zu tun.
Wir vergeben den Internationalen Literaturpreis an ein Buch – und seine Übersetzung –, das Gewalt, reale Begebenheiten, in eine Form bringt und sie uns zugleich ungebremst zumutet, in fast unerträglicher Masse und Intensität. An ein Buch – und seine Übersetzung –, das uns in eine Gegenwart zwingt, die auch unsere Gegenwart ist. Eine Gegenwart, in der wir uns Herablassung gegenüber der Gewalt auf fernen und bedeutenderen Kontinenten nicht mehr leisten können.
Wir wünschen uns, dass der Preis die dämonischen Kräfte dieser Autorin – und dieser Übersetzerin – stärkt und gleichzeitig als guter Gegenzauber der Aufklärung alle abschreckt, die ihnen Böses wollen.
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"Mitleid und Erbarmen hielten Bilbos Hand zurück. Viele, die leben, verdienen den Tod und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen geben, Frodo? Dann sei nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand. Selbst die ganz Weisen erkennen nicht alle Absichten. Mein Herz sagt mir, dass Gollum noch eine Rolle zu spielen hat, zum Guten oder zum Bösen, ehe das Ende kommt." (Gandalf zu Frodo)
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Dazu hab ich noch ein sehr intressantes Interview mit der Authorin Fernanda Melchor von derDeutschen Welle als Update:
Zitat:
Interview
Fernanda Melchor: "Ich musste die Geschichte hinter dem Verbrechen schreiben"
Die Autorin Fernanda Melchor wurde mit dem Internationalen Literaturpreis prämiert. Im DW-Interview erzählt sie vom Überlebenskampf und Aberglauben in Mexiko.

"Saison der Wirbelstürme", 2017 in Mexiko im Original als "Temporada de huracanes" veröffentlicht, spielt in einer Welt voller Gewalt und Aberglauben. La Matosa heißt das Dorf im trockenen Küstenhinterland von Veracruz, in dem der Mord an einer Frau, die alle nur als "Hexe" kennen, in ein vielstimmig erzähltes Sodom und Gomorra führt.
DW: Was für eine Nachricht war es, die Sie dazu brachte, den Stoff für Ihren Roman zu recherchieren?
Fernanda Melchor: Nach meinem Journalistikstudium arbeitete ich in Veracruz im Büro für Öffentlichkeitsarbeit meiner Uni. Dort las ich jeden Tag in den lokalen Zeitungen all die Berichte über Gewaltverbrechen in dieser Gegend. 2009 bis 2013 wurde über viele Verbrechen aus Leidenschaft oder einer irren Vorstellung von Liebe berichtet. Und dann sah ich diese Meldung über eine Frau, die in einem kleinen Dorf tot im Kanal gefunden worden war.
Der Journalist schrieb, dass dieses Verbrechen durch Hexerei motiviert war. Es las sich, als wäre das etwas völlig Selbstverständliches. Der Mörder habe die Frau umgebracht, weil sie ihn durch Hexerei dazu bringen wollte, sich wieder in sie zu verlieben. Diese Information nahm mich gefangen und ließ mich nicht mehr los. Ich musste über die Geschichte hinter diesem Verbrechen schreiben.
Hatten Sie von vornherein an einen Roman gedacht?
Eigentlich wollte ich vor Ort recherchieren, aber in diesen kleinen Dörfern verbargen sich die Narcos, um ihren Drogenhandel abzuwickeln. Ich wäre sofort aufgefallen, wenn ich dort Fragen gestellt hätte. Ich wollte mich lieber nicht in Gefahr bringen. Also tröstete ich mich damit, dass ich etwas genauso Interessantes erzählen könnte, wenn ich mich in das Innenleben der Personen, die dieses Verbrechen begangen hatten, in fiktiver Form hineinversetzte.

Einkaufsstraße einer mexikanischen Kleinstadt
Sie haben über Gewalt gegen Frauen geschrieben, Frauen, die in einem Leben von Armut, perverser Sexualität und Aberglauben gefangen sind. Inwieweit spiegelt das die Realität der mexikanischen Gesellschaft?
Die mexikanische Gesellschaft ist sehr divers. Aber es stimmt, dass es eine perverse Ungleichheit gibt, die zu wirklich dunklen und gefährlichen Verhältnissen führt und Verbrechen verursacht. Ich wollte nichts anderes, als zu zeigen, was an einem ganz kleinen Ort geschehen kann, der vom Staat und der Gesellschaft vergessen ist. Was mit Menschen passiert, um die sich niemand kümmert.
Ist Mexiko in Ihrer Wahrnehmung auf dem Weg in den Abgrund?
Ich würde gern ein optimistischeres Bild zeichnen. So vieles läuft falsch in Mexiko, vor allem, wie höchst unfair der Reichtum verteilt ist. Millionen Menschen haben einfach nichts, viele junge Leute haben keine Zukunft, weil sie keine Gelegenheit bekommen, ihrer Not zu entfliehen.
Wo bleiben Liebe und Freundschaft in Ihrem Roman? Gibt es keinen Raum für Empathie?
Im fiktiven Dorf La Matosa gibt es bestimmt Liebe und Freundschaft, aber die Figuren meines Romans sind in einem Teufelskreis gefangen. Jeder dieser Protagonisten ist auf der Suche nach Liebe, aber da ihnen nie welche entgegengebracht wurde, wissen sie nicht, was Liebe ist. Sie verwechseln sie mit Gier, Dankbarkeit oder Verlangen. Es ist schwer, Liebe zu suchen, wenn man dabei ist zu ertrinken, kurz davor steht, alles, sogar die eigene geistige Gesundheit zu verlieren. Ich glaube, sie verwechseln alles, aber ich habe "Saison der Wirbelstürme" eigentlich immer für einen Roman über die Liebe gehalten.
Die Menschen, die den Staat repräsentieren, Polizisten, eine Sozialarbeiterin, Politiker, sind entweder brutal, herzlos oder korrupt. Wo ist der Staat?
Er ist abwesend, wie in so vieler Hinsicht in Mexiko. Wenn zum Beispiel eine Frau in Mexiko vergewaltigt oder sexuell missbraucht wird, und sie will das vor Gericht bringen, bedeutet das, dass sie ein zweites Mal zum Opfer gemacht wird. Mexiko hat die höchste Rate an Teenagerschwangerschaften in der Welt. Es gibt kein Recht auf Abtreibung. Man kann sie höchstens in Mexiko-City vornehmen lassen, aber dann muss man selber dafür bezahlten. In der Figur der 13-jährigen Norma wollte ich davon erzählen.

Prostitution in Mexiko
Sie erzählen in einem sehr schnellen Rhythmus und folgen den Gedanken und Bildern in den Köpfen ihrer Protagonisten ohne je innezuhalten. Sie geben die äußerst vulgäre Sprache ihrer Figuren in einer höchst kunstvollen Weise wieder. Wie haben Sie Ihre Erzählperspektive und diese atemlose Sprache gefunden?
Ich glaube, drei Viertel meiner Arbeit an diesem Roman bestand darin, diese Stimme zu finden. Als ich anfing zu schreiben, hörte ich mit der Zeit die Stimmen der verschiedenen Figuren, die mir ihre Geschichte erzählten. Aber ich wollte nicht, dass das Buch nur eine Ansammlung von Zeugenberichten wäre, es sollte eine Einheit sein. Deshalb riet mir ein Freund genau im richtigen Moment, Gabriel Garc�*a Márquez' "Der Herbst des Patriarchen" zu lesen. Ein Buch, das eine Erzählerperspektive hat, die dem, was ich suchte, sehr nahe kam. Also versuchte ich, eine Erzählerstimme zu finden, die gleichzeitig in den Figuren und außerhalb von ihnen sein sollte. Und eine abwechselnde Folge von Stimmen, die ihre Geschichte erzählten - und wie bei dem Spiel Stille Post veränderte sich die Geschichte jedes Mal.
Es ist in Ihrem Buch viel von Hexerei und magischen Erscheinungen die Rede, aber es ist kein Roman des magischen Realismus. Hätte das eigentlich nicht gut gepasst?
Ich glaube, es war ein mexikanischer Journalist, der mir sagte, "Sie schreiben einen alptraumhaften Realismus." Ich bin natürlich mit Garc�*a Márquez aufgewachsen, und ich habe jede Menge Horrorgeschichten gelesen, Stephen Kings Romane zum Besipiel. Ich selber glaube nicht an übernatürliche Dinge, aber ich bin mir bewusst, dass viele Menschen in Mexiko, vor allem in der Gegend von Veracruz, an spirituelle Dinge glauben, oder auch an UFOs.
Ich wollte diese seltsame Form der Spiritualität, die ich sehr interessant finde, in meinem Roman wiedergeben. Die beschrieben Rituale sind also tatsächlich die der Hexen in Veracruz.
Wie wurde Ihr Roman in Mexiko aufgenommen?
Sehr gut, vor allem von jungen Leuten. Und das ist etwas Besonderes, denn das heißt, dass er an etwas anknüpft, was die junge Menschen berührt. Für ein literarisches Buch hat er sich mit 15.000 Exemplaren bisher sehr gut verkauft.
Für [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], es gab viele Journalistenmorde. Haben Sie manchmal Angst?
Ich arbeite nicht mehr als Journalistin, und das Bücherschreiben ist nicht so gefährlich, denn man steht viel weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit als als Investigativreporter. Ich glaube deshalb, dass ich, abgesehen von der ganz alltäglichen Gefahr, mit der alle Bürger Mexikos leben, in Sicherheit bin.
Was bedeutet der [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] für Sie?
Ich fühle mich wirklich geehrt und bin dankbar. Als ich erfuhr, dass "Saison der Wirbelstürme ins Deutsche übersetzt werden sollte, habe ich mich gefragt, wie das funktionieren sollte. Dann sagte mir der Verlag, dass Angelica Ammar eine vorzügliche Übersetzerin sei und ich mich auf sie verlassen könnte.

Die preisgekrönte deutsche Übersetzung von Angelica Ammar
Ich fühle mich in Deutschland jetzt weniger allein. Der Preis bedeutet, dass sich mehr Menschen für mein Buch interessieren werden. Und vielleicht finden sie einen Weg, das, was den Figuren in meinem Buch zustößt, mit ihrem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Denn, seien wir ehrlich, selbst wenn man in einem privilegierten Land lebt, hat man doch manchmal Probleme und ist niedergeschlagen.
Ein Buch in einer einzigen Sprache zu haben, ist, als kämpfte man allein. Jetzt, mit der deutschen Übersetzung neben denen in anderen Sprachen, kommt es mir vor, als hätte ich immer mehr Gesellschaft.
Fernanda Melchor, geboren 1982 in Veracruz, Mexiko, arbeitete als Journalistin und veröffentlichte Erzählungen und Reportagen. "Saison der Wirbelstürme ist ihr zweiter Roman. 2018 wurde sie vom PEN Mexiko für ihre herausragende literarische und journalistische Leistung ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Anna-Seghers-Preis. Am 18. Juni 2019 wurden sie und ihre deutsche Übersetzerin Angelica Ammar vom Berliner Haus der Kulturen der Welt mit dem Internationalen Literaturpreis geehrt.
Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 240 Seiten
Das Gespräch führte Sabine Peschel.
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"Mitleid und Erbarmen hielten Bilbos Hand zurück. Viele, die leben, verdienen den Tod und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen geben, Frodo? Dann sei nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand. Selbst die ganz Weisen erkennen nicht alle Absichten. Mein Herz sagt mir, dass Gollum noch eine Rolle zu spielen hat, zum Guten oder zum Bösen, ehe das Ende kommt." (Gandalf zu Frodo)
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