Hintergrund. Der neue Internetkapitalismus – Teil I: Über Crowdsourcing, »menschliche Wolken« und Profitmaximierung durch umfassende Prekarisierung der Lohnabhängigen
Der Menschheit ergeht es im Kapitalismus wie dem berühmten Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren konnte, die er herbeirief. Sind sie erst im Prozeß der Kapitalverwertung voll inkorporiert, scheinen sich die größten Errungenschaften und Erfindungen gegen die Menschen zu wenden, zu einer feindlichen und unüberwindlichen Macht anzuwachsen, die durch marktvermittelte objektive »Sachzwänge« allen Lohnabhängigen das Leben zur Hölle machen. Diese konstitutive Tendenz kapitalistischer Herrschaft – auf deren Fundament die bürgerlichen Ideologien des Kulturpessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit blühen – charakterisierte auch die widersprüchliche Entwicklung des Internets, das einerseits einen ungeheuren Schub der Globalisierung und Rationalisierung kapitalistischer Warenproduk*tion beförderte, aber andrerseits seiner inhärenten Struktur nach das Kapitalverhältnis bereits zu transzendieren schien: Nichts ist augenscheinlich absurder und widersinniger, als innerhalb der Weiten des World Wide Web die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durchsetzen zu wollen. Der Windmühlenkampf der Politik und Kulturindustrie um die Durchsetzung des »Copyrights« kann nur unter sukzessiver Verstümmelung des freien Informationsflusses im Netz fortgesetzt werden – und er bildete einen wichtigen Impuls bei der Formierung der europäischen Piratenparteien.
Globale Verwertungsketten
Abseits der Sphäre der digitalen und immateriellen Güter hat schon der Vernetzungsschub des Internet 1.0 (das primär die passive Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationskanäle ermöglichte) die ungeheure Dynamik der Globalisierung der kapitalistischen Warenproduktion überhaupt erst technisch ermöglicht, bei der globale Verwertungsketten in einem zuvor ungekannten Ausmaß aufgebaut und tatsächlich erfolgreich koordiniert und optimiert werden konnten. Die damit einhergehenden Rationalisierungsschübe ließen eine verstärkte globale Verdrängungskonkurrenz in den meisten Industriezweigen um sich greifen, mit der im Rahmen der neoliberalen Offensive der vergangenen Dekaden bereits eine ******* Umwandlung des Arbeitslebens und eine Verstärkung der Ausbeutungsrate einhergingen.
Mittels umfassender Flexibilisierung der Arbeitsabläufe, einer Dezentralisierung der Produktion, der Abschmelzung der Kernbelegschaften und dem korrespondierenden Aufbau einer Klasse prekarisierter Tagelöhner reagierten viele deutsche Konzerne durchaus erfolgreich auf die zunehmende Verdrängungskonkurrenz auf dem Weltmarkt. Gesamtgesellschaftlich eingebettet ist diese erste Phase der postfordistischen Umwandlung des Arbeitslebens in die neoliberal verbrämte totale Mobilisierung der Gesellschaft anhand der Verwertungsinteressen des Kapitals. Alle Ressourcen und Gesellschaftsbereiche der als »Leistungsgemeinschaft« ideologisierten Nation sollen im Rahmen dieses totalitären Ökonomismus in den Dienst an der Front der zunehmenden Weltmarkt- und Standortkonkurrenz gezwungen werden.
Dennoch blieben die grundlegenden Strukturen des Arbeitslebens weitgehend unangetastet. Die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen macht sich immer noch jeden Morgen auf den Weg an ihren physisch tatsächlich gegebenen Arbeitsplatz, der sich in einem Betrieb, einem Bürokomplex oder einer sonstigen Institution befindet, die jenseits der Wohnung liegt. Die Trennung zwischen der Privatsphäre des Lohnabhängigen und des Arbeitslebens blieb gesamtgesellschaftlich betrachtet größtenteils bestehen. Zudem dominieren allen Prekarisierungswellen – und dem entsprechenden Phänomen der Scheinselbstständigkeit – zum Trotz immer noch abhängige Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitswelt im heutigen Spätkapitalismus.
Selbst in der insbesondere in der BRD rasch anschwellenden Zeitarbeitsbranche handelt es sich um eben solche mit Arbeitsverträgen kodifizierte Formen abhängiger Lohnarbeit. Lohnarbeit wird auch im krisengeschüttelten Kapitalismus immer noch überwiegend an Arbeitsplätzen außerhalb der Privatsphäre verrichtet, wie es seit der Durchsetzung der Industrialisierung der Fall ist. All dies dürfte aber künftig zur Disposition stehen, denn die kommenden Umbrüche könnten die bisherigen Rationalisierungs- und Globalisierungsschübe zu einem bloßen Prolog degradieren.
»Crowdsourcing«
Vorreiterrolle: IBM weist den Weg zu einer neuen Arbeitswelt auf Basis von Internettechnologien (Vor dem IBM-Stand auf der Computermesse CeBIT, 5. März 2012)
Foto: dapd
Wohin die Entwicklung tendiert, zeigte IBM-Personalchef Tim Ringo in einem unachtsamen Moment im April 2010 auf, als er im Gespräch mit der Fachzeitschrift Personnel Today eine Reduzierung der festangestellten Stammbelegschaft des IT-Riesen von knapp 400000 auf weltweit nur noch 100000 Angestellte bis 2017 diskutierte, die unter Anwendung der webbasierenden Rationalisierungsstrategie des »Crowdsourcing« vollführt werden könnte: »Es gäbe keine Gebäudekosten, keine Renten und keine Kosten für das Gesundheitswesen, was enorme Einsparungen bedeutet«, so Ringo begeistert. Beim Crowdsourcing wird eine ursprünglich innerhalb des Unternehmens vollführte Tätigkeit ausgelagert und an eine Gruppe (Crowd) von prekären Lohnabhängigen oder Kleinstbetrieben ausgelagert, die diese Tätigkeit dann projektbezogen und in Konkurrenz zu anderen verrichten soll, sobald die Unternehmensleitung diese ausschreibt (im Kapitaljargon als »call«, als Aufruf, bezeichnet). Ringo machte in dem Interview auch klar, daß die rund 300000 in den Planungen zum Abschuß freigegebenen IBM-Angestellten eigentlich »nicht gefeuert« würden, da man sie hiernach als »Auftragnehmer« weiterbeschäftigen würde: »Ich denke, Crowdsourcing ist sehr wichtig, du hast einen Kern von festen Angestellten, aber die große Mehrheit wird ausgelagert.« Selbstverständlich wurde dieser allzu offenherzige Vorstoß des Personalmanagers von der Konzernführung im April 2010 umgehend aufs Verbissenste dementiert. Und selbstverständlich geht IBM nun daran, mit ersten Flexibilisierungsoffensiven eben dieses Konzept umzusetzen.
Anfang Februar versetzten Pressemeldungen über geplante massive Stellenstreichungen bei IBM-Deutschland die Belegschaft des IT-Unternehmens in helle Aufregung. Bis zu 8000 der rund 20000 in Deutschland angestellten IBM-Mitarbeiter würden in den nächsten Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren, ließen Spitzenmanager gegenüber dem Handelsblatt durchsickern. Die Konzernleitung hüllte sich bezüglich des anstehenden Kahlschlags einen Monat in Schweigen, bis IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz sich am 1. März zu einem lustlosen Dementi durchrang. Die Meldungen über den Personalkahlschlag seien »spekulativ«, das Unternehmen plane »im Moment« keine Massenentlassungen. Am 30. März folgte das Dementi des Dementis, als Koederitz, angesprochen auf den Stellenabbau im Gespräch mit dem Journal VDI Nachrichten darauf insistierte, auch künftig »neue Technologien zu erproben«, die die »Arbeitsumgebung auch in Zukunft intelligenter, smarter und flexibler gestalten«. IBM habe schon in den 80er Jahren angefangen, »Heimarbeitsplätze zu entwickeln«, betonte die IBM-Chefin. Tatsächlich pflegt die Führungskaste des Hochtechnologiekonzerns ein elitäres Selbstbild, bei dem IBM als ein Schrittmacher neuer Busineßstrategien und Arbeitsstrukturen firmiert, die dann von der gesamten Branche übernommen würden. Diese Ideologie der permanenten Innovation, bei der sich IBM immer wieder »neu erfinden« müsse, gründet in der erfolgreichen Transformation des Unternehmens von einem Hardwarehersteller zu einem hochprofitablen Software- und Dienstleistungskonzern. »Big Blue«, wie der Konzern auch genannt wird, gilt in dieser Hinsicht in der Branche als Vorbild: Gerade ist etwa der krisengeplagte Hardwarekonzern HP bemüht, mittels einer massiven Entlassungswelle eine ähnliche Transformation wie IBM zu vollführen.
Das Damoklesschwert der Massenentlassungen schwebt also weiter über der deutschen IBM-Belegschaft, für die Koederitz nicht einmal die genaue Mitarbeiterzahl angeben will, da dies angeblich angesichts der hochgradigen globalen Verflechtung des Konzerns kaum noch möglich sei. Der Hinweis der deutschen IBM-Chefin auf die »Heimarbeitsplätze«, an deren Entwicklung ihr Unternehmen federführend beteiligt gewesen war, bietet auch einen Ausblick auf die Zukunft der derzeitigen Belegschaft, sollte sich die Konzernführung durchsetzen. Die neusten Webtechniken sollen hierbei eine Klasse prekarisierter Tagelöhner hervorbringen, deren Wohn- und Arbeitsplätze verschmelzen würden. Das von der Konzernführung »liquid« (flüssig) getaufte neue Organisationsmodell sieht eine massive Flexibilisierung der Arbeitsabläufe und deren »flüchtigere Organisation« (Handelsblatt vom 1. Februar 2012) vor, die durch die Auslagerung von Tätigkeitsfeldern an externe Dienstleister und insbesondere an freie Mitarbeiter bewerkstelligt werden soll. Die Masse betriebswirtschaftlich verwerteter Arbeitskraft – wie auch der hierfür notwendigen Arbeitskräfte – soll so einer Flüssigkeit gleich nahezu friktionslos den Erfordernissen des Konzerns angepaßt werden können. Das Liquid-Konzept stellt somit die Perfektionierung des neoliberalen Wunschtraums vom »atmenden Unternehmen« dar, das Lohnarbeiter nach Gutdünken heuern und feuern kann.
Massive Prekarisierung
Das Neuartige an diesem Konzept besteht darin, daß nun Organisationsstrukturen des Internets massiv auf die Arbeitsabläufe in der IT-Branche übertragen werden sollen. Das Internet scheint aus der digitalen Sphäre herauszutreten und sich in der Realität des Arbeitslebens, in dessen Strukturen zu »materialisieren«. Das Web 2.0 ist durch die Aktivität der Netzteilnehmer geprägt, der »Schwarm« gilt als dessen zentraler Akteur, das »soziale Netzwerk« bildet dessen grundlegende Kommunikationsplattform, die»Cloud« (Datenwolke) gilt als zentrales Strukturmerkmal. Und genau diese Charakteristika 2.0 – der »Schwarm«, das soziale Netzwerk und die Cloud – sollen auf die Arbeitswelt übertragen werden. Um die Ausmaße der drohenden Prekarisierungswelle voll zu erfassen, muß hier nochmals der fundamentale Unterschied zu den Umstrukturierungsschüben im Gefolge der Inwertsetzung der Techniken des »passiven« Internet 1.0 betont werden. Dieses spielte bei den bisherigen Globalisierungsschüben insofern größtenteils eine strukturell passive Rolle, als es nur die bestehenden Strukturen der Betriebsorganisation quantitativ modifizierte und erweiterte: Es ermöglichte eine größere Reichweite betriebswirtschaftlicher Organisation, eine Beschleunigung des Verwertungsprozesses, größere Effizienzgewinne oder Einsparpotentiale, ect. pp.
Das Web 2.0 wird hingegen aktiv zu der strukturellen Auflösung und Zerfaserung der gegebenen betriebswirtschaftlichen Strukturen beitragen, wie es bereits an IBMs Liquid-Konzept absehbar ist. »Big Blue« will künftig viele Softwareprojekte auf eigens eingerichteten Internetportalen (»Liquid Portal«) ausschreiben, bei denen zertifizierte freie Softwareentwickler sich anmelden können, um sich für die jeweils von IBM ausgeschriebenen Projekte zu »bewerben«. Auf diesen »Projektbörsen« – die eine Art Ebay der Lohnarbeit darstellen werden – dürfen auch die derzeit noch festangestellten IBM-Mitarbeiter um neue Aufträge »mitbieten«. Dies wird von der »Liquid Community« bereits seit einiger Zeit im Unternehmen im kleinen Maßstab praktiziert, so daß IBM bereits erste Erfahrungen mit Crowdsourcing intern sammeln konnte. Hierbei handelt es sich um rund 7000 Mitarbeiter mit freien Zeitkonten, die sich in diese »neue Arbeitsweise exakt eingefügt« hätten, wie IBM-Vizepräsident Patrick Howard im August 2011 schwärmte: »Wir schaffen 30 Prozent schnellere Auslieferung, 20 Prozent höhere Qualität, (…) und haben dabei in 30 Monaten die Kosten um 33 Prozent gesenkt.« Sollte diese massive Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsorganisation erfolgreich sein, wird das Liquid-Konzept konzernweit voll umgesetzt werden.
Bei dem »externen« Crowdsourcing soll das auf projektbezogene Jobvermittlung spezialisierte Internetportal Top-Coder zum Zuge kommen, bei dem sich global bereits etwa 400000 freie Programmierer als Nutzer angemeldet haben. Hierbei erstellt der betreffende Programmierer ein Profil seiner Fähigkeiten, wie auch auf anderen Online-Plattformen, um dann an dem allgemeinen Konkurrenzkampf um Aufträge teilnehmen zu können. IBM wird somit in einem ersten Schritt bestimmte Ausschreibungen beim Top-Coder-Portal plazieren, das im Firmenjargon als »Liquid Ressource« bezeichnet wird. Das entsprechende Portal gleicht somit Facebook, nur daß hier die von IBM zertifizierten Fähigkeiten der Beschäftigten und deren frühere Leistungsbewertungen eingesehen werden können. Perspektivisch will der Konzern diese Art des webgestützten Tagelöhnertums in der gesamten Branche popularisieren, indem die entsprechenden Portale auch selbst aufgebaut und anderen Unternehmen zur Nutzung angeboten werden sollen – gegen eine Gebühr, die zur weiteren Einahmequelle wird. Der künftige IBM-Projektleiter aus der Kernbelegschaft könnte diesen Vorstellungen gemäß, auf etlichen Jobportalen sich seine freien Mitarbeiter aus verschiedenen Portalen für ein Projekt einfach »zusammenklicken« – ganz so, wie wir uns derzeit Favoritenlisten oder Einkaufslisten auf Internetportalen zusammenstellen.
Jobportale wie Top-Coder oder Twago stellen somit eine Art pervertiertes soziales Netzwerk dar, auf dem die prekarisierten Lohnabhängigen ihre Ware Arbeitskraft feilbieten müssen – und deren einzige Kommunikationsform die gnadenlose Konkurrenz untereinander bildet. Im Idealfall sollen die an die Portale gerichteten »Calls« (die Projektaufträge) der IT-Konzerne »offen« sein. Dies bedeutet, daß jeder auf dem Portal gemeldete Programmierer an der Realisierung des Projekts teilnehmen kann und nur die beste Lösung auch entlohn wird. Die Konsequenzen dieser Form des »Crowdsourcing« schilderte die Ver.di-Betriebszeitung bei IBM: »Das ist für den Aufgabensteller – hier die IBM – besonders lukrativ, denn der kann aus den fertigen angebotenen Lösungen genau die aussuchen, die ihm am besten gefällt und am billigsten ist. Natürlich wird nur diese eine fertige Lösung bezahlt. Vielleicht kriegt noch der Zweitplazierte etwas, aber die anderen gehen leer aus. Sie haben dann umsonst gearbeitet.«1
»Human Cloud«
Das soziale Netzwerk – von den Medien spätestens seit dem Ausbruch des »arabischen Frühlings« als das Mittel menschlicher Emanzipation schlechthin idealisiert – wandelt sich bei Einverleibung in den Verwertungsprozeß zu einem buchstäblich »asozialen Netzwerk«, das Konkurrenz und Ausbeutung auf eine neue Stufe stellt. In einer furchtbaren Ironie wird so das soziale Netzwerk dazu mißbraucht, die konkurrenzvermittelte Vereinzelung der lohnabhängigen Monaden auf die Spitze zu treiben, deren Wohnung nun auch zum Arbeitsplatz wird.
Inzwischen macht das Schlagwort des »Cloud Working« in der Branche die Runde, um aus betriebswirtschaftlicher Perspektive die Möglichleiten des Web 2.0 auf den Begriff zu bringen. Mit dem IT-Begriff der »Cloud« (Wolke) werden die Daten, Programme und Dienstleistungen bezeichnet, die ein Benutzer im Internet aufbewahrt – etwa durch webgestützte E-Mail-Clients, soziale Netzwerke, Videoportale, Foto- und Musikdienste, usw. Nahezu jeder von uns hinterläßt solch eine Wolke von persönlichen Daten im Internet. Die in den asozialen Netzwerken der Lohnarbeit gegeneinander konkurrierenden Menschen sollen im Idealfall Teil einer »Wolke« aus lebendiger Arbeitskraft werden, die um die Kernbelegschaft eines Konzerns konjunkturabhängig fluktuiert. Diese menschliche Wolke, die »Human Cloud« von freien Mitarbeitern, bleibt nur noch vermittels der Subunternehmen, Jobportale und der entsprechenden Zertifizierungen an das Unternehmen »angedockt«. Mit diesem Prozeß geht auch eine regelrechte Zerfaserung der Unternehmensstrukturen einher, die aufgrund einer Vielzahl von Subunternehmen, Dienstleistern und Jobportalen im Konzernumfeld an Eindeutigkeit und Kontur verlieren. Künftig sollen somit möglichst viele Arbeitsabläufe in Form von »offenen Calls« auf Projektbasis an diese Tagelöhner in der »Human Cloud« ausgeschrieben werden, die sich wie ein »Schwarm« auf diese Calls stürzen und in Konkurrenz zueinander dem Konzern ihre Lösungen anbieten, von denen dieser die besten auswählen kann. Hier würde ein »Schwarm des Kapitals« kreiert, der enorme Effizienzgewinne ermöglichte. Das System ist zudem auf direkte weltweite Konkurrenz ausgelegt, bei dem der Standort der einzelnen Cloud-Mitglieder keine Rolle spielt. Deswegen erwägt die IBM-Führung die Einführung globaler Arbeitsverträge. Und deswegen ist die IBM-Deutschland-Chefin Koederitz schon heute der Ansicht, die genaue Anzahl ihrer Mitarbeiter in Deutschland aufgrund der globalen Verflechtung ihres Unternehmens nicht beziffern zu können.
Im Grunde stellen diese Überlegungen die Konsequenz des neoliberalen Appelles an die »Selbstverantwortung« der Lohnabhängigen dar. Diese würden so tatsächlich zu den »Unternehmern ihrer selbst« werden, die nun wirklich für alle Voraussetzungen ihrer Lohnarbeit aufzukommen hätten: Ausbildung, Gesundheit, Renten, Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, usw. – während die Zuspitzung der Konkurrenz untereinander und die Form der Heimarbeit die Organisierung von Gegenwehr stark behindern würden. Auch in Deutschland gibt es übrigens erste Versuche, »Human Clouds« aufzubauen. So kann das Portal clickworker.com bereits 100000 Nutzer verzeichnen, die prekär Korrekturaufgaben, Text*erstellung oder Internetrecherche übernehmen. Kein Wunder also, das IBM-Personalchef Ringo schon 2010 so begeistert war. Die Zeitschrift Personnel Today, der Ringo das besagte Interview gab, berichtete zudem von einem gigantischen gesamtwirtschaftlichen Potential für diese neuen Formen der prekären webbasierenden Arbeitsvermittlung in den USA: »Outsourcing-Experten erklärten, daß Arbeitgeber im privaten wie öffentlichen Sektor dieses Modell verstärkt in Erwägung zögen, um die Personalkosten im Gefolge der Rezession zu senken.« Tendenziell können nahezu alle Formen der Büroarbeit – und auch viele Dienstleistungen – in die »Cloud« ausgelagert werden. Wie eine solch umfassend prekarisierte »schöne neue Arbeitswelt« aussehen würde, schildert der im Auftrag der Gewerkschaft Ver.di produzierte Kurzfilm »Gar kein Wolkenkuckucksheim«. Der Film entwickelt ein Zukunftsszenario, bei dem Lohnabhängige in den meisten Branchen bereits zu Cloud-Workern zugerichtet wurden.
Der anstehende Umbruch in der Sphäre der Lohnarbeit resultiert letztendlich aus einem qualitativen Umschlag in der Dialektik von Kapitalverwertung und Produktivkraftentfaltung der Technologien des Web 2.0. Bislang bildeten diese neuen Technologien ein Objekt der Kapitalverwertung, als hier von Unternehmen wie Facebook neue Märkte erschlossen wurden. Nun werden diese neuartigen technologischen Möglichkeiten zum Subjekt der Akkumulationsbewegung, indem sie gesamtwirtschaftlich zur Optimierung der Kapitalverwertung in allen möglichen Branchen eingesetzt werden sollen.
Hintergrund. Der neue Internetkapitalismus – Teil II (und Schluß): Über Selbstoptimierung, die Verinnerlichung der Imperative der Kapitalverwertung und die optimale Ausbeutung der Ressource Mensch
Von Tomasz Konicz
Arbeitsmonaden: Vereinzelt und auf eigene Verantwortung sollen die Lohnabhängigen sich ständig selbst optimieren (Screenshot aus dem Film »Work Hard – Play Hard«)
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In der Ära der digitalen Transparenz verliert der Begriff der Privatsphäre zunehmend an Kontur und Bedeutung, wie jüngst viele Erwerbslose erfahren mußten: »Geben Sie uns bitte ihr Facebook-Paßwort«. Mit dieser Aufforderung sehen sich immer öfter Arbeitssuchende bei Vorstellungsgesprächen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien konfrontiert. Die Personalabteilungen wollen dabei sichergehen, daß ihre künftigen Lohnabhängigen keine für das Unternehmen nachteiligen Anschauungen pflegen oder suspekte Bekanntenkreise aufweisen. Und nichts eignet sich besser, den Konformismus der potentiellen Angestellten auszuloten, als die sozialen Netzwerke, in denen immer mehr Menschen ihre Privatsphäre freiwillig offenlegen.
Dieser Zugriff auf die Privatsphäre trifft bisweilen auch schon länger beschäftige Lohnabhängige. Gegenüber dem britischen Telegraph berichtete Lee Williams, Angestellter eines Onlineshops, daß er von einem Vorgesetzten nach seinen Facebook-Zugangsdaten gefragt wurde, da sein Account aufgrund vorsichtiger Einstellungen für Außenstehende kaum einsehbar war. »Der Boß dachte, das Williams etwas zu verbergen habe, weil sein Profil nicht öffentlich zugänglich war«, so faßte der Telegraph die Argumentation des »Arbeitgebers« zusammen. Wer nichts zu verbergen habe, der habe auch nichts zu befürchten – diese polizeistaatliche Logik reproduziert sich vermittels des perversen Zwangs zur Transparenz auch im Internet und seinen sozialen Netzwerken.
Zwang zur Transparenz
Im vergangenen März haben die Paßwortanfragen durch »Arbeitgeber« schließlich auch Facebook zu einer Stellungnahme veranlaßt, in der das soziale Netzwerk diese geschäftschädigende Praxis verurteilte. Die amerikanische Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) startete sogar eine relativ erfolgreiche Kampagne, die auf die Illegalisierung solcher Praktiken abzielt. So hat etwa Ende Mai der Senat des US-Bundesstaats Kalifornien entsprechende Gesetze verabschiedet, die es Unternehmen verbieten, die Zugangsdaten ihrer Bewerber oder Angestellten anzufordern.
Dabei deutet diese Episode bereits das ungeheure Potential an Überwachungs- und Kontrolltechniken an, die aus der gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung der Technologien des Internet 2.0 erwachsen. Die Personalabteilungen versuchten in diesen Fällen, eine bereits gegebene Tendenz auszunutzen, um so ihr »Humankapital« zu optimieren. Die persönlichen Daten befinden sich ja bereits in der Web-Cloud, der »Datenwolke« im Netz. Es kommt nur noch darauf an, den Zugriff darauf zu organisieren. Dieser »Zwang zur Transparenz«, der auf den Lohnabhängigen zusehends lasten wird, resultiert hauptsächlich aus einer Notwendigkeit, im Zuge der eingeleiteten prekären Umformung der Arbeitsverhältnisse (siehe jW-Thema in der gestrigen Ausgabe) auch neue adäquate webgestützte Kontrollmechanismen zu etablieren. Die Etablierung des webbasierenden »Cloud Working« und der entsprechenden Crowdsourcing-Strategien, bei denen eine »Wolke« von prekarisierten Tagelöhnern nur noch über entsprechende Internetportale mit der stark reduzierten Kernbelegschaft auf Projektbasis in Arbeitsaustausch tritt, birgt neben den ungeheuren Einspar- und Rationalisierungseffekten auch enorme Herausforderungen für das Kapital. Die Bindungslosigkeit des neuen Internetproletariats ist für das Kapital Segen und Fluch zugleich.
Der Verzicht auf einen Arbeitsplatz mitsamt fester Anstellung, Büroflächen, Sozialabgaben und Arbeitsausrüstung läßt auch keinerlei Verbindlichkeit, Loyalitäten oder sonstige Bindungsgefühle seitens des neuen digitalen Prekariats aufkommen. Eine Identifizierung des Tagelöhners mit dem Konzern – der für gewöhnlich eine spezifische Corporate Identity kreiert – ist somit nicht mehr möglich. Hierdurch fällt der Kernbelegschaft auch die Sicherung einer zuverlässigen Mitarbeit der Tagelöhner, mitunter die Qualitätskontrolle der abgelieferten Arbeit, sehr schwer. Nach dem Ende des jeweiligen »Projekts« findet sich ein »Cloud Worker« arbeitslos in der Wolke wieder, so daß die üblichen Anreize der kontinuierlichen Karrierelaufbahn, wie sie bei Angestellten noch zum Tragen kommen, nicht mehr greifen. Die umfassende gruppenbedingte Kontrolle des Angestellten am Arbeitsplatz, die sich ja bereits in der gläsernen Transparenzarchitektur vieler postmoderner Bürohochhäuser widerspiegelt, kann bei den vereinzelten Monaden in dem webbasierenden Schwarm des Kapitals naturgemäß nicht mehr aufrechterhalten werden und muß durch andere webgestützte Formen der Disziplinierung und Leistungsbewertung ersetzt werden.
Kostengünstige Überwachung
Genau daran wird in der Branche mit Hochdruck gearbeitet, während erste Ansätze webgestützter Leistungskontrolle bereits umgesetzt wurden. Die von dem deutschen IT-Riesen SAP aufgekaufte Firma Success Factor gilt beispielsweise als Pionier eines auf Cloud-Basis durchgeführten »Human Capital Management«. Sobald Unternehmen einen Großteil ihrer IT-Infrastruktur auflösen und statt dessen die Datenverarbeitung an externe Anbieter von Cloud-Computing auslagern, sinken die Kosten *******r Kontrolle dramatisch.
Die Anbieter solcher Datenwolken erledigten nicht nur die klassischen betriebswirtschaftlichen IT-Aufgaben. Firmen wie Success Factor bieten zudem Software an, die in der Datenwolke »Fehlzeiten, Arbeitszeiten, Vertragsabschlüsse oder sonstige Formen der Leistungsnachweise« der Lohnabhängigen analysiert, berichtete unlängst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.5.2012). Die Leistungen der Angestellten könnten somit quasi in Echtzeit im Rahmen einer Dienstleistung eines externen Cloud-Anbieters »gemessen, bewertet und verglichen« werden, ohne daß das betreffende Unternehmen größere Investitionen tätigen müßte. Der Preis für »professionelle« Leistungsüberwachung und Kontrolle würde deswegen dramatisch sinken, so die FAZ: »Denn mit den neuen Cloud-Angeboten können die Kunden (die Cloud-Anbieter, T.K.) die Programme für ihre Computer quasi aus der Steckdose ziehen.« Im Klartext: Bald kann sich jeder Kleinbetrieb das »Human Ressource Management« eines Großkonzerns leisten – inklusive der entsprechenden Ausbeutungsraten und des entsprechenden Rationalisierungspotentials.
Was Success Factor an der Datenwolke einzelner Unternehmen vollführt, wird künftig auch an der »menschlichen Wolke« der prekarisierten Internettagelöhner durchexerziert werden. Die Leistungen der Cloud-Worker würden dann durch webgestützte Programme und Portale ebenfalls bis ins Kleinste »gemessen, bewertet und verglichen«, ohne daß die Beteiligten dieses Orwellschen Überwachungsprozesses in der »Human Cloud« auch nur ein einziges Mal einander sehen müßten.
Das Karlsruhe Service Research Institute (*KSRI) beschäftigte sich zwischen Juni 2010 und Mai 2012 in einem Forschungsprojekt mit den »People Clouds«, die laut Projektbeschreibung »das Cloud-Computing-Paradigma auf menschliche Arbeitsleistung« übertragen sollen. Eine »besondere Herausforderung« dieses neuen Arbeitskonzepts stelle aber »das Qualitätsmanagement dar, da man sich wegen der eingeschränkten Kontrolle über die beteiligten Crowd-Worker nur bedingt auf einzelne Arbeitsergebnisse verlassen kann.« Um diesen Mangel zu beheben, wolle das KSRI in dem Projekt »skalierbare Qualitätsmanagementmechanismen entwickeln, welche die Arbeitsergebnisse mehrerer Crowd-Worker in einer effizienten Art und Weise kombinieren, um verläßliche Resultate zu garantieren.« Hierdurch solle ein »integriertes Qualitätsmanagementkonzept« entstehen, so das KRSI, dessen Ausbeutungsforschung unter anderem von IBM gefördert wird. Andere Anbieter, wie die US-Unternehmen Salesforce oder Saba, drängen mit ihren Lösungen für das »Human-Cloud-Management« bereits auf den Markt. Saba etwa will eine »revolutionäre« Software für die People-Cloud entwickelt haben, die einen »People-Quotient« ermittelt, der »den Einfluß, die Reputation und die Wirkung« der jeweiligen Cloud-Worker mißt. (Siehe »Der Schwarm des Kapitals«, Jungle World, Nr.15, 2012)
Grundlage der webbasierenden Arbeitskontrolle ist der eingangs erwähnte Zwang zur Transparenz. Die prekären Internetproletarier werden ihre Fähigkeiten und Zertifizierungen auf Jobportalen wie Top-Coder der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Doch zugleich werden sich dort die Bewertungen aller ehemaligen Unternehmer finden, die künftig auf Grundlage der derzeit entwickelten Verfahren des »Human-Cloud-Management« ermittelt werden. Jeder ehemalige »Arbeitgeber« wird so die Leistungen der Cloud-Worker nach Abschluß des jeweiligen Projekts bewerten können, was den Erfolgsdruck dieser Tagelöhner trotz prekärer Stellung ungemein steigern dürfte. Absolut transparente Bewertungen auf offenen Internetplattform werden das grausamste und auch zuverlässigste Kontroll- und Disziplinierungsmittel in der »People Cloud« darstellen. Hier können durchaus Parallelen zu den Bewertungen von Onlineversandhändlern gezogen werden, wie sie bei Ebay oder in Preisvergleichportalen bereits heutzutage üblich sind. Dies ist im Rahmen des spätkapitalistischen Ökonomismus nur konsequent: Die allgegenwärtige Forderung nach Transparenz gilt dann auch für die prekarisierten »Unternehmer ihrer selbst«, die nichts anderes immer billiger losschlagen können als ihre Arbeitskraft. Der derzeitige »Arbeitgeber« wird somit zum »Kunden« des Selbstunternehmers, womit die neoliberale Umwertung aller Werte in der Arbeitswelt abgeschlossen wäre.
»Steigern Sie Ihren Marktwert«
»Wir sind alle Kapital« – Das »Human Ressource Management« sorgt dafür, daß die Beschäftigten ihre eigenen Ziele mit denen des Konzerns identifizieren (Screenshot aus dem Film »Work Hard – Play Har
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Ein weiteres Mittel der Kontrolle in der schönen neuen Arbeitswelt des Web 2.0 bildet der Prozeß der Fortbildung und der Erlangung neuer Fähigkeiten, der den Preis der Ware Arbeitskraft der Cloud-Worker steigen ließe. Die auf den Web-Portalen ihre Fähigkeiten feilbietenden Internetproleten müssen einen Nachweis erbringen, diese Fertigkeiten tatsächlich auch anwenden zu können. Dies geschieht über den Prozeß der Zertifizierung, bei dem Arbeitskräfte spezielle Kurse oder Prüfungen absolvieren, in denen das entsprechende Fachwissen abverlangt oder vermittelt wird. Diese kostenpflichtigen Kurse bieten den IT-Konzernen die Möglichkeit der Ausformung und Kontrolle des entsprechenden Fachwissens. Darüber hinaus stellen sie eine zusätzliche und zuverlässige Einnahmequelle dar, wenn beispielsweise Cloud-Worker nur dann bestimmte Aufträge ergattern können, wenn sie die entsprechenden Kurse absolviert haben. Auch im Zertifizierungsgeschäft ist IBM führend, dessen Professional Certification Program laut Eigenaussage »international anerkannte Qualifizierungsstandards« setzt. Der Konzern wirbt bereits mit der entsprechenden Logik für diese Dienstleistung: »Weisen Sie über eine Zertifizierung Ihre Qualifikation im IBM Produktumfeld nach, und steigern Sie so Ihren Marktwert. Das lohnt sich für Ihre Karriere.«
Einen weiteren zentralen Kampfplatz der neuen Kontrolltechniken bildet das Individuum selbst. Wurde im Laufe der ersten Phase des neoliberalen Rollbacks die gesamte Gesellschaft dem Ökonomismus untergeordnet, so sollen nun die Imperative der Kapitalverwertung möglichst tief im Bewußtsein der einzelnen Menschen verankert, die letzten Leistungs- und Kreativitätsreserven mobilisiert werden. Die totalitäre Verinnerlichung der Kapitalimperative soll so die webgestützte Überwachung und Qualitätskontrolle ergänzen und dem kriselnden Kapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen. Bei Henrik Müller, dem stellvertretenden Chefredakteur des Manager Magazins, liest sich das in einem Gastbeitrag für Spiegel online folgendermaßen: »Der wirklich knappe Faktor ist nicht mehr Kapital, sondern Kreativität – Humankapital in seiner schönsten Form. Die derzeitige Krise wird der Westen nur überwinden können, wenn die freien Gesellschaften diese Knappheit überwinden lernen.« Müller forderte dabei einen »Humankapitalimus«, der den Menschen in den Mittelpunkt stelle.
Wie inhuman der neue Humankapitalismus die Menschen in den oberen Etagen der Verwertungspyramide bereits heutzutage dressiert, schilderte die Regisseurin Carmen Losmann in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. In dem Milieu des Human-Ressource-Management herrsche ein Menschenbild vor, das den Menschen als »sich selbst optimierende Ressource« imaginiert. Losmann stellte eindrucksvoll in ihrem Dokumentarfilm »Work Hard – Play Hard«, der ganz in die Welt transnationaler Konzerne und Beratungsfirmen eintaucht, die an Gehirnwäsche erinnernden Verfahren dar, in denen das gesamte Streben des Lohnabhängigen auf die optimale Verwertung seiner Leistungsressourcen geeicht wird. Dabei treibt diese Managementdressur die den kapitalistischen Arbeitsprozeß charakterisierende Entfremdung auf die Spitze, gerade indem sie scheinbar aufgehoben wird. Letztendlich sollen die Imperative des heteronomen, den Menschen in seine Tretmühle zwingenden Verwertungsprozesses als die Maxime des eigenen, autonomen Strebens wahrgenommen werden. Es gehe um eine »sehr subtile Uminterpretation von Selbstentfaltung«. Dieses Vorgehen weise »schon teilweise faschistoide Tendenzen« auf, betonte Losmann im Gespräch mit dem Internetportal Telepolis.
Der Lohnabhängige soll vermittels eines pseudoprivaten Arbeitsumfeldes und der entsprechenden Techniken des Human-Ressource-Managemen ganz im Streben nach dem Erreichen der Unternehmensziele aufgehen und diese eigenverantwortlich, in Selbstkontrolle verwirklichen. »Wir sind Kapital« – diese Parole sollen künftige Generationen von Lohnabhängigen verinnerlichen. Einer der mit der Schaffung dieses kapitalistischen »Neuen Menschen« betrauten Kapitalroboter beschreibt im Film diesen intendierten Mentalitätswandel als einen Langzeitprozeß: »Wir wollen den richtigen Menschen. Wenn wir das jetzt nicht richtig betreiben, dann gibt’s uns in zehn Jahren nicht mehr. Prozesse und Strukturen lassen sich schnell ändern. Aber Einstellungen und Verhalten – das dauert.« Das Ergebnis dieser Gehirnwäsche schilderte etwa der Filmkritiker Jürgen Kiontke in einer Besprechung des Losmann-Films auf dem Gewerkschaftsportal Gegenblende: »Die Menschen in diesem Film sind tot, sie wissen es bloß noch nicht. Fremdbestimmung ist jedenfalls nicht mehr nötig. Denn die Leute hier arbeiten ›task-orientiert‹, die kontrollieren sich ganz von allein.«
Das letzte Expansionsfeld
Selbstverständlich werden hier bereits in Ansätzen gegebene Konzepte der »Selbstoptimierung« – wie sie bereits BWL-Studenten eingebläut werden – ins ******* gesteigert. Die in den Labors des »Human-Management« ausgebrüteten Techniken der Selbstverleugnung, -kontrolle und -optimierung sollen in abgewandelter Form in alle Sphären der Arbeitsgesellschaft diffundieren und sukzessive zur Voraussetzung der Lohnarbeit werden. Es zeichnet sich dabei ab, daß die Heerscharen des Prekariats und der »Cloud-Worker« auf Formen der Selbstoptimierung ausgerichtet werden, während die kleinen Kernbelegschaften einer leistungsoptimierenden Gehirnwäsche unterzogen werden, wie sie in Ansätzen in »Work Hard – Play Hard« dargestellt wurde. Das Kapital nimmt mit diesem Drang nach Verinnerlichung seiner Imperative in den Individuen auch eine fundamentale Umdeutung bestehender Begriffe in Angriff, die Orwellsche Ausmaße erreicht: Selbstausbeutung wird so zu Selbstverwirklichung, Selbstkontrolle zur Freiheit umgelogen.
Wieso aber rückt nun der Mensch – inklusive seiner Privatsphäre – ins Zentrum der Konzepte und Strategien der Akkumulationsoptimierer in den Beratungsfirmen? Einen ersten Hinweis darauf gab Henrik Müller in seinem Gastbeitrag für Spiegel online, als er »Humankapital in seiner schönsten Form« als den wichtigsten Faktor bezeichnete, der zur Überwindung der gegenwärtigen Krise beitragen könne. Der kommende Kapitalzugriff auf das Innerste des Menschen bildet genauso einen Krisenreflex, wie die Ausrichtung der Gesamtgesellschaft anhand der Imperative der zusendest stockenden Kapitalverwertung in den vergangenen Jahren. Das Kapital reagiert auf seine Krise buchstäblich extremistisch, indem es sich selbst ins Extrem treibt. Die Degradierung der gesamten Gesellschaft zu einem »Wirtschaftsstandort« im Rahmen des grassierenden Ökonomismus verschaffte Konzernen und Staaten ja tatsächliche Vorteile in der Verdrängungskonkurrenz der vergangenen Dekaden, wie etwa die dominante Stellung der BRD in Europa illustriert. Nach der totalitären Unterjochung aller Gesellschaftsbereiche bleibt nur noch das innerste des Menschen als ein letztes Expansionsfeld übrig, um weiter vor der Krisendynamik zu flüchten. Es handelt sich um eine extremistische Flucht des Kapitalverhältnisses vor den Folgen seiner Verwertungsbewegung.
Der Mensch befindet sich innerhalb des Kapitalverhältnisses in einem ständigen »Wettlauf mit den Maschinen«, deren permanente Evolution immer größere Rationalisierungspotentiale eröffnet. Je weiter der technologische Fortschritt die menschliche Arbeit im Produktionsprozeß überflüssig macht, desto stärker geraten reguläre Arbeitsbedingungen und Löhne unter Druck. Die Prekarisierung und die Abrufung der letzten Leistungsreserven vermittels der Selbstoptimierung bilden die Mechanismen, mit denen eine zunehmend schrumpfende Anzahl von Lohnabhängigen noch »in Arbeit« gehalten wird. Arbeit muß billiger und produktiver werden, um im »Wettlauf mit den Maschinen« zumindest vorläufig bestehen zu können. Andrerseits sind vom Rationalisierungsdrang diejenigen Tätigkeiten ausgenommen, bei denen genuin menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten unabdingbar sind. Deswegen steigt insbesondere bei den Kernbelegschaften das Interesse des Personalabteilungen an der Privatsphäre oder dem Charakter der Lohnabhängigen.
Der »neue Mensch«
Das Kapital will bei der Kernbelegschaft tatsächlich auf den ganzen Menschen zugreifen, weil die »Menschlichkeit« die wichtigste, technologisch nicht reproduzierbare Eigenschaft bildet, die verwertet werden soll. Aus der Umprogrammierung des menschlichen Strebens nach Selbstentfaltung im Sinne der Kapitalverwertung sollen dann auch die Kreativitätsschübe resultieren, die dem krisengeplagten Spätkapitalismus neue Verwertungsfelder eröffnen. Dieser totalitäre »Neue Mensch«, der in seiner Funktion als variables Kapital im Verwertungsprozeß ganz aufgeht, soll unter totaler Mobilisierung seiner innersten Reserven dem an seiner eigenen Produktivität erstickenden Kapital noch einmal den Weg aus der Krise weisen.
Diese durch immer weiter voranschreitende Produktivitätsfortschritte ausgelöste Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft wird ursächlich zu dem Auseinderbrechen des Arbeitsmarktes in eine prekäre Masse von Selbstoptimierern und eine kleine Elite von gehirngewaschenen Kernbelegschaften führen. Der Kapitalismus könnte nur noch in dieser barbarischen Form, die an Dystopien eines George Orwell oder Aldous Huxley erinnert, seinen Zusammenbruch hinauszögern. Letztendlich erinnert die Heimarbeit des Spätkapitalismus in einer dialektischen Negation der Negation an die Heimarbeit des Frühkapitalismus, wie sie etwa in der englischen Textilindustrie im Rahmen des Verlagssystem praktiziert wurde, bei dem Heimhandwerker für sogenannte Verleger Textilien herstellten, die diese dann aufkauften und vermarkteten. Der frühe Kapitalismus drang vermittels der Lohnarbeit in die Häuser der Menschen ein, bevor er sie in die Fabriken trieb. Der Spätkapitalismus wird den künftigen Internettagelöhner erneut in den eigenen vier Wänden abliefern, bevor das kapitalistische Arbeitssystem an seinen eigenen Widersprüchen zerbricht.
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