Ein neues muslimisches Wir
Tariq Ramadan, Schweizer Islamwissenschaftler ägyptischer Herkunft, rockt in Berlin das Haus der Kulturen der Welt. Der Redner inszeniert sich wie ein Popintellektueller.
Tariq Ramadan ist der Star-Intellektuelle der Muslime in Europa. Wie groß die Anziehungskraft des Schweizer Islamwissenschaftlers ägyptischer Herkunft ist, konnte man am Freitagabend im Berliner Haus der Kulturen der Welt erleben, wo Ramadan als Hauptredner angekündigt war. Der große Saal des HdKW war bis zum letzten Platz gefüllt, über 300 Leute blieben beim Thema „Deutschlands Muslime und europäischer Islam“ draußen vor der Tür. Ramadan trat auf wie ein Popintellektueller und dementsprechend agierte eine erste Diskussionsrunde als Vorgruppe zur Einstimmung auf den Auftritt des smarten Charismatikers.
Warum werde Muslimen nicht die Freiheit pluraler Lebensführung zugestanden? fragte Hausherr Bernd Scherer. Man werde von der Mehrheitsgesellschaft zum Muslim gemacht, sagte Sawsan Chebli, Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten beim Berliner Senat. Als junges Mädchen sei es ihr indes stets ein Problem gewesen, ihren Stolz, eine Deutsche zu sein, auch bekunden zu können. Früh sei sie mit Fremdzuschreibungen konfrontiert worden. Die im Alter von sechs Jahren aus dem Libanon nach Berlin gekommene Palästinenserin hatte das seltene Kunststück fertiggebracht, trotz einer bildungsfernen Familie Abitur zu machen und zu studieren. Ihre Geschichte betrachtet sie heute jedoch eher als biografisches Glück denn als Beweis eines erfolgreichen Bildungssystems. Mit der Nüchternheit eines durch viele Integrationsdebatten gegangenen Politprofis ergänzte der Grünen-Chef Cem Özdemir, er sei hier geboren. Er habe sich das nicht ausgesucht, aber da müsse man nun durch. Die Autorin und FR-Kolumnistin Hilal Sezgin beklagte ein Anerkennungsvakuum sowie die starke Dominanz des Religiösen. Identitäten seien aber nun einmal plural und relational. Es sei an der Zeit, die Religionsdebatte von der Integrationsdebatte zu trennen.
Tariq Ramadan knüpfte dort an, wo seine Vorredner aus Zeitgründen unterbrochen worden waren. An die Stelle eines Clash der Kulturen sah er ein Aufeinanderprallen der Wahrnehmung. So führte er den Andrang des Publikums darauf zurück, dass die Muslime in Europa weitgehend negativ wahrgenommen werden. Das Sichtbarwerden des Fremden, so seine Diagnose, rufe Ängste hervor. Das unterschlägt jedoch den persönlichen Anteil des Redners am akuten Diskussionsbedarf. Der Intellektuelle aus einer ägyptischen Gelehrtenfamilie, den das Internetportal Achgut.de mit demagogischer Verve den „gekrönten Meister des Doppelsprechs“ nennt, präsentierte sich als emphatischer Fürsprecher eines europäischen Islam. Es komme darauf an, sich von der Zuschreibung zu lösen, dass nur unsichtbare Muslime gute Muslime seien. Stattdessen plädierte er für ein neues Wirgefühl der Muslime in Europa, das vor allem durch Stimmenvielfalt hergestellt werden müsse. Was kommt nach dem Dialog und der Integration? fragte Ramadan und verwies auf die positiven Artikulationsbeispiele muslimischer Ausdrucksformen in Sport und Pop. Muslimische Vielfalt und Leichtigkeit seien der Weg und das Ziel, einen selbstbewussten muslimischen Beitrag zum europäischen Gemeinwesen zu leisten. Und wenn Moscheen gebaut werden, dann in den Formen der europäischen Architektursprache.
Geschichtsphilosophische Gravität erhielten Ramadans Ausführungen durch den Historiker Dan Diner. Mit Verweis auf die Erschütterungen, die die Judenemanzipation in Europa ausgelöst hat, prognostizierte er, die Präsenz des Islam sei eine fundamentale Herausforderung für Europa, die wohl noch zwei Generationen andauern werde. Als Bruchlinie sah Dan Diner, dass der Islam nicht nur eine Konfession sei, sondern beanspruche, eine sakral durchdrungene Kultur mit eigener Rechtsordnung zu sein. Der Islam müsse Confessio werden, so Diner, um im Kontext der europäischen Religionstoleranz zu reüssieren. Der Islam, paraphrasierte Diner den umstrittenen Staatsrechtler Carl Schmitt, „ist unsere eigene Frage als Gestalt.“
Auf dieses geschichtsphilosophische Parkett mochte Tariq Ramadan sich so spät am Abend aber nicht begeben. So blieb Diners kluge Intervention seltsam unbeantwortet im Raum stehen. Dass Ramadans muslimisches Wir bereits Gestalt angenommen hat, stellte das Publikum durch seine bloße Präsenz und ein ausgeprägtes Redebedürfnis an den Saalmikrofonen unter Beweis. Die Stimmenvielfalt muslimischer Sprecher war der heimliche Star des Abends.