Ist der Rat des Sachverständigenrats (Wirtschaft) für die Initiative "Gut leben - Lebensqualität in Deutschland" der Bundesregierung ratsam?
Nürnberg, 30.12.2014
Sehr geehrte Frau Bundestagsabgeordnete,
liebe Frau Kolbe,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 5.8.2014.
Gerne komme ich Ihrem Wunsch nach, Sie auch nach Abschluss der Tätigkeit der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ des Deutschen Bundestages, die unter Ihrem Vorsitz stand, über meine Arbeit, über Neues von der Glücksforschung (Happiness Research) und der Psychologischen Ökonomie (Behavioral Economics) auf dem Laufenden zu halten.
Es freut mich sehr, dass die Bundesregierung die Diskussionen in der Enquete-Kommission aufgreift und ein Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland entwickelt. Allerdings halte ich es nicht für ratsam, den Sachverständigenrat für Wirtschaft um Rat zu fragen, da dieses Gremium noch zu stark dem neoliberalen/ neoklassischen Denken/ Paradigma/ Weltbild verhaftet ist. Vielmehr schlage ich als Ratgeber die OECD und das Behavioral Insigths Team der britischen Regierung vor.
Zum aktuellen Stand des Erkenntnisfortschritts in den Wirtschaftswissenschaften
In unserem Buch "Gesundes Führen mit Erkenntnissen der Glücksforschung" geht es u.a. auch darum, zu zeigen, was "haltlose Annahmen" in den Wirtschaftswissenschaften sind und was Stand der aktuellen Erkenntnisse der interdisziplinären Forschung in den Wirtschaftswissenschaften ist, um darauf aufbauend Empfehlungen für das Management abzuleiten. Eine Beschäftigung mit diesen Annahmen ist zwingend, um die wissenschaftliche Grundlage dafür zu legen, alte Prägungen zu überwinden. Alte Prägungen, die in Studium, Lehre und Forschung in den letzten drei Jahrzehnten im Zeichen des neoliberalen Paradigmas verbreitet wurden. Dem neoliberalen Paradigma liegt die Neoklassik (die neoklassisches Theorie) zugrunde, die letztlich nur auf der a priori Annahme des homo oeconomicus fußt.
Zentral für das neoliberale Paradigma ist die Theorie effizienter Kapitalmärkte, die auf der Annahme beruht, "dass alle Wirtschaftsakteure jederzeit alle verfügbaren Informationen rational verarbeiten. Doch die Finanzkrise der Jahre 2007/8 erschütterte den Glauben an dieses Konzept." so Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute und früherer Vorsitzender des Sachverständigenrates in seinem Leitartikel im Handelsblatt vom 22.12.2014 (S. 14).
Jörg Asmussen, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und ehemaliges Mitglied des EZB-Rates, führte auf seinem Vortrag bei der Handelsblatt-Konferenz "Ökonomie neu denken" am 26.2.2014 in Frankfurt Folgendes aus: "Ich denke, dass inzwischen klar ist, was wirtschaftstheoretisch nicht funktioniert hat: Im Kern ging es um die Unzulänglichkeit der neoklassischen Finanzmarkttheorie, die Institutionen weitgehend ignoriert hat und unterstellt, dass Finanzmärkte stabil sind, Informationen effizient verarbeitet werden und Wirtschaftssubjekte rational handeln." (Handelsblatt vom 27.2.2014, S. 30f.).
Jörg Asmussen hat die EZB 2013 bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten, bei der es darum ging, inwieweit die von der EZB im Sommer 2012 angekündigten Käufe von Staatsanleihen im Bedarfsfall rechtlich noch mit dem EZB-Mandat gedeckt sind (zu einer kritischen Würdigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus ökonomisches Sicht siehe Karlheinz Ruckriegel, Bundesverfassungsgericht versus EZB/Eurosystem - zur Frage der Effizienz von Finanzmärkten, Link: [
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In den 70er Jahren kam es zu einer Ablösung der nachfrageorientierten keynesianischen Theorie durch das federführend von Milton Friedman entwickelte neoliberale Paradigma der Chicagoer Schule. Die nachfrageorientierte Theorie versagte damals bei der Bekämpfung der angebotsseitigen Schocks durch die Ölkrisen der 1970er Jahre. Nachfrageorientiertes Denken wiederum löste die marktliberale Theorie nach dem Börsencrash 1929 ab. Die markliberalen Laissez-faire Ideen von Adam Smith und Jean-Baptiste Say liberalisierten die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens im 19. Jahrhundert und lösten den Merkantilismus ab (Rürup).
Ganz allgemein gesprochen haben die in den Wirtschaftswissenschaften jeweils herrschenden Paradigmen gravierenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen. Dies zeigte sich im Zeichen des neoliberalen Paradigmas insbesondere an der weltweiten Deregulierungspolitik und der Umsetzung des Shareholder-Value-Ansatzes in vielen Unternehmen seit den 80er Jahren.
Wirtschaftswissenschaftliche Paradigmen prägen/gestalten also die Realität. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften hat bei den Sozialwissenschaften, insbesondere bei den Wirtschaftswissenschaften das Paradigma, also das theoretische Vorverständnis des Forscheres, nämlich auch prägende Wirkung für die Realität. Das neoliberale Paradigma führte aufgrund der bloßen (a priori-) Annahme rationalen Handelns zu einer weltweiten Deregulierung großen Ausmaßes mit großen gesellschaftlichen Wirkungen. Die gesellschaftliche Realität wurde also durch den bloßen Glauben an ein Paradigma (das letztlich nur auf der a priori gesetzten "homo oeconomicus Annahme" fußt ) massiv verändert. Der Lauf der Gestirne hingegen wird nicht dadurch verändert, ob der analysierende Beobachter dem kopernikanischen, newtonschen oder einem einsteinschen Weltbild anhängt (Rürup).
Am 18.12.2014 erschien im Handelsblatt im Rahmen der aktuellen Reihe "Die größten Denker" ein Report über bzw. Gespräch mit Daniel Kahneman. Der Report ist überschrieben mit "Der Vater aller Gedanken". "Niemand hat die Strukturen unseres Denkens so offengelegt wie der Wirtschaftsnobelpreisträger und Psychologe. Damit öffnete er der Menschheit die Augen für den eigenen Geist - und ihre ökonomischen Entscheidungen." (S. 12). Mit seinen Erkenntnissen über das duale Handlungssystem beim Treffen unserer Entscheidungen räumt Kahneman mit der Illusion auf, "dass unseren Entscheidungen immer ein rationaler Gedankengang vorausgeht. Meist ist es ganz anders: Wir entscheiden intuitiv, fast automatisch, ohne groß nachzudenken. Dabei vertrauen wir auf Assoziationen, die sich aus unserer Erinnerung speisen, und auf Gefühle wie zum Beispiel Sympathie, die uns in die eine oder andere Richtung lenken."
Unser Gehirn verfügt über zwei mentale Systeme, die im Wesentlichen getrennt sind. Das eine, das nach Kahneman auch als System 1 bezeichnet wird, hat eine große Rechnerleistung. Es arbeitet ständig, um unsere Probleme zu bearbeiten. Es liegt aber jenseits unserer Wahrnehmung. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind u.a. Gedanken, die uns "auf einmal" einfallen. Das andere, nach Kahneman auch als System 2 bezeichnet, nehmen wir bewusst war. Dabei unterliegen wir einer Täuschung des Geistes, da wir den Inhalt des Systems 2 (unseres Bewusstseins) mit der gesamten Tätigkeit unseres Geistes gleichsetzen. In Wirklichkeit findet der größte Teil der mentalen Abläufe im System 1 statt.
Merkmale des Dualen Handlungssystems
System 1 ist System 2 ist
die schnelle Gehirntätigkeit, die sich in Millisekunden bemisst langsam
unwillkürlich, automatisch und ständig aktiv willentlich
intuitiv, weil es durch Assoziationsnetzwerke funktioniert anstrengend
impulsiv und von Gefühlen getrieben der Ort der Selbstbeherrschung, die (manchmal) die Oberhand über automatische Routinetätigkeiten gewinnt und emotional bedingte Impulse zum Schweigen bringen kann
zuständig für die Ausführung gewohnter Routinetätigkeiten und Leitfaden für Handlungen in der Lage, neue Modelle zu erlernen, neue Pläne zu schmieden und – bis zu einem gewissen Grad – die Verantwortung für unser automatisches Handlungsrepertoire zu übernehmen
der Verwalter unserer mentalen Weltmodelle.
Quelle: Daniel Goleman, Konzentriert Euch! Eine Anleitung zum modernen Leben, München 2014, S. 39.
Kahneman hebt das "bislang herrschende, aber lebensfremde Menschenbild vom stets rational handelnden "homo oeconomicus" aus den Angeln." (S. 12).
In unserem Buch "Gesundes Führen ..." findet sich unter Kapitel 1.2 "Wie wir Entscheidungen treffen - vom Homo oeconomicus zum Dualen Handlungssystem" eine kurze Zusammenfassung der wesentlichsten Erkenntnisse zu diesem Dualen Handlungssystem.
Zur Rationalitätsannahme verstanden als „logische Kohärenz“, d.h. als logisch widerspruchsfreie Entscheidungen (Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 50
, dem zentralen Axiom der Neoklassik, schreibt Kahneman:
„Die Definition von Rationalität als Kohärenz ist in einer wirklichkeitsfremden Weise restriktiv; sie verlangt die Einhaltung von Regeln der Logik, die ein begrenzter Intellekt nicht leisten kann.“ (Kahneman 2012, S. 508f)." (zur Kritik an der Rationalitätsannahme im Einzelnen siehe auch unser Buch "Gesundes Führen ...", Kap. 1.10.3 "Abschied vom homo oeconomiucs").
Als der Psychologe Kahneman, der für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Behavioural Economics 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, erstmals von den psychologischen Annahmen der neoklassischen Ökonomik („psychological assumptions of economics“) erfuhr, wonach der Mensch in der Ökonomik rational und egoistisch sei und seine Präferenzen (im Zeitablauf) nicht ändere („the agent of economic theory is rational and selfish, and that his tastes do not change“), glaubte er als erfahrener Psychologe kein Wort davon („not to believe a word of it“), so Kahneman in seinem Aufsatz "A Psychological Perspective on Economics", der 2003 im weltweiten Flaggschiff der volkswirtschaftlichen Journale, der American Economic Review erschienen ist (Kahneman 2003, S. 162). Hätte man schon damals die Erkenntnisse von Kahneman ernst genommen, hätte es wohl nicht zu den Finanzkrisen der späteren Jahre kommen müssen (zur Entstehung der Finanzkrise im Einzelnen Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel, Franz Seitz, Europäische Geldpolitik - Theorie, Empirie, Praxis, 6. Auflage, Konstanz/ München 2013, S. 61-75 - dieser Text findet sich auch im Reader zu unserem Buch, der auf der Buch-Homepage des Verlags frei zugänglich ist: [
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Interessant ist also auch, dass Daniel Kahneman bereits 2002 für seine Arbeiten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, seine Erkenntnisse im Zeichen des neoliberalen Weltbilds/ Paradigmas der Deregulierung und des Shareholder Value der 00 Jahr bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007/8 aber kaum Beachtung geschenkt wurde. Doch das passt ganz ins Bild eines Denkens in einem dominierenden Paradigma, dass kaum Abweichendes wahrnimmt.
In seiner Ausgabe Januar 2014 beschäftigt sich der Harvard Business manager, die deutschsprachige Aussage des Harvard Business Review, mit dem Themenschwerpunkt "Klüger entscheiden. Denkfallen vermeiden, die richtigen Instrumente nutzen - wie die Psychologie Managern hilft, gute Urteile zu fällen". Der Harvard Business manager legt hier seinen Lesern das Buch Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahneman, nachdrücklich zur Lektüre ans Herz: "Das jüngste Werk des Psychologen und Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman wurde sofort nach seinem Erscheinen ein Bestseller. Und das zu Recht: Seine bahnbrechenden Untersuchungen zur Entscheidungsfindung helfen Managern, die Gesetze des Denkens zu analysieren. Kahneman unterscheidet zwischen dem immer aktiven, stereotyp und oft unbewusst ablaufenden Denken (System 1, Anm. d. Verf.) und dem langsamen, logischen und berechnenden Denken (System 2, Anm. d. Verf.). Beide Denkweisen (die zusammen als Duales Handlungssystem bezeichnet werden, Anm. d. Verf.) kommen oft zu unterschiedlichen Schlüssen – erfolgreiche Entscheider müssen sie deshalb kombinieren, um in verschiedenen Situationen richtig zu urteilen" ( S. 60).
Aus Sicht des wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts bedeutsam sind auch die Begründungen für die Vergabe des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 2013. Für ihre Beiträge zur Frage der Vorhersehbarkeit der Preisentwicklung auf den Finanzmärkten erhielten u.a. Eugene Fama und Robert Shiller den Nobelpreis. Robert Shiller wurde für seine Arbeiten, die den Einfluss der Psychologie auf die längerfristige Preisentwicklung herausarbeiteten (Bubbles / Blasen), ausgezeichnet. Shiller hat also für seine Arbeiten auf dem Gebiet der (angewandten) Behavioral Economics zur Erklärung der Ursachen der Finanzmarktkrisen den Nobelpreis verliehen bekommen. Eugene Fama erhielt ihn für seine Arbeiten zur Unmöglichkeit der Vorhersage von kurzfristigen Preisentwicklungen.
In ihrer Rede zur Eröffnung des 5. Treffens der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften am 20.8. 2015 in Lindau hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Initiative der Bundesregierung Bezug genommen:
"Wir wollen mit einem noch etwas anderen Ansatz in den nächsten Jahren als Bundesregierung da herangehen, indem wir intensiver als bisher die konkreten Vorstellungen von Bürgerinnen und Bürgern von einem guten Leben in Erfahrung bringen und ein Indikatorensystem entwickeln, an dem sich die Politik dann orientieren kann. ... Nun kommen wir aus Jahren, in denen man – ich will das in einem so gelehrten Kreis ganz vorsichtig sagen – nicht immer den Eindruck hatte, dass die Wirtschaftswissenschaften schon alles wissen, was auf uns zukommt. Man kann jetzt natürlich fragen, woran es gelegen hat, dass manches, was wir in unseren Statistiken und Prognosen angenommen haben – nicht nur wir als Politiker, sondern auch in hoch sachverständigen Organisationen –, so schwer neben der Realität lag, die sich dann eingestellt hat. Da gibt es ja verschiedene Möglichkeiten. Wahrscheinlich haben alle einen Anteil daran."
Damit brachte die Bundeskanzlerin an höchst prominenter Stelle zum klar Ausdruck, dass es höchste Zeit für eine Überwindung des neoliberalen Paradigmas in den Wirtschaftswissenschaften ist.
Zur Initiative der Bundesregierung und zum Paradigma des Sachverständigenrats
Gegenwärtig läuft die Initiative "Gut leben - Lebensqualität in Deutschland" der Bundesregierung. Sie soll auch zu einem Indikator- und Berichtssystem als Richtschnur für die Politik führen:
"Auf Basis der Bürgergespräche plant die Bundesregierung, ein Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland zu entwickeln. Er soll in regelmäßigen Abständen in verständlicher Form über Stand und Fortschritt bei der Verbesserung von Lebensqualität in Deutschland Auskunft geben. ... Das Vorhaben wird wissenschaftlich begleitet. Vorarbeiten für einen Indikatorensatz, der Lebensqualität in Deutschland beschreibt, hatte es bereits in der vergangenen Wahlperiode gegeben. Im Sommer 2013 verabschiedete die Enquete-Kommission des Bundestags "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" einen entsprechenden Antrag. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, mit Daten des Statistischen Bundesamtes und mit Hilfe der Ökonomen des Sachverständigenrats zehn Indikatoren in den Blick zu nehmen, die Wohlstand und gesellschaftlichen Fortschritt messen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy haben in der vergangenen Legislaturperiode die Sachverständigenräte Deutschlands und Frankreichs damit beauftragt, ein Indikatorensystem zu erstellen." ([
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Allerdings sehe ich die Rolle des Sachverständigenrates (SVR) äußerst kritisch. Bei der Stellungnahme zu diesem Indikatorensystem im Jahre 2010, aber auch beim Mitwirken des SVR bei der Enquete-Kommission durch seinen gegenwärtigen Vorsitzenden, zeigte sich, dass der gegenwärtige (!) SVR noch (immer!) im neoklassischen (neoliberalen) Paradigma und seiner homo oeconomicus-Annahme verhaftet ist.
Zum Ausdruck kam dies durch die ablehnende Haltung des SVR, insbesondere seines Vorsitzenden bei der Verwendung von subjektiven Indikatoren (insbesondere Befragungen zur Lebenszufriedenheit). Dies führte letztlich sogar dazu, dass - entgegen dem aktuellen Stand der internationalen Diskussion zur Glücksforschung - sich kein Indikator zur subjektiven Lebenszufriedenheit (Subjective Wellbeing) im Abschlussbericht der Enquete-Kommission findet. Diese Befragungen sind aber Kern der Untersuchungen der Glücks- und Lebenszufriedenheitsforschung.
Dazu habe ich in meiner E-Mail vom 4.2.2013 an Sie, die ich mit "Flucht aus der Wirklichkeit" überschrieben habe, Folgendes geschrieben:
"Weshalb hat die Mehrheitsposition subjektive Indikatoren wie etwa die subjektive Lebenszufriedenheit - entgegen dem weltweiten Diskussions- und Erkenntnisstand und der sehr guten Datenlage hierzu in Deutschland - nicht in ihr umfangreiches Indikatorenset aufgenommen? Auf einen Indikator hin oder her wäre es hier wohl auch nicht mehr angekommen.
Diese Frage stellt sich umso mehr, da bereits im Einsetzungsbeschluss des Deutschen Bundestages für die Enquete-Kommission vom 23.11.2010 eine Berücksichtigung von subjektiven Indikatoren explizit gefordert wird:
Unter „2. Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators“ steht (S. 3; [
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„Insbesondere folgende Aspekte sind dabei zu beachten:
- der materielle Lebensstandard
- Zugang zu und Qualität von Arbeit; -
- die gesellschaftliche Verteilung von Wohlstand, die soziale Inklusion und Kohäsion;
- intakte Umwelt und Verfügbarkeit begrenzter natürlicher Ressourcen;
- Bildungschancen und Bildungsniveaus;
- Gesundheit und Lebenserwartung;
- Qualität öffentlicher Daseinsvorsorge, sozialer Sicherung und politischer Teilhabe;
- die subjektiv von den Menschen erfahrene Lebensqualität und die Zufriedenheit“
Es sind also acht Felder explizit genannt, und dazu gehören unmissverständlich auch subjektive Indikatoren.
Norbert Häring, der Ökonomie-Korrespondent des Handelsblatts schreibt in seinem Kommentar im Handelsblatt vom 30.1.2013: „Die aktuellen Werturteile von Kommissionsmitgliedern bestimmen die Auswahl, verbergen sich aber hinter dem Anstrich der Objektivität.“ (S.
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Die einzige Erklärung, die ich deshalb für die Nicht-Berücksichtigung von subjektiven Indikatoren habe, ist die schroff ablehnende Haltung/Sichtweise/Meinung, die sich in dem Sondergutachten „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem“ des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) vom Dezember 2010 findet. Diese Sichtweise des SVR ignoriert allerdings die neuen Ansätzen und Erkenntnissen in der VWL (Behavioral Economics und Glücksforschung) und steht so argumentativ auf tönernen Füßen. "
Eine ausführliche und grundlegende Kritik an der Position des SVR, der eine neoklassische Denkweise und Annahmen zugrunde liegen (Stichwort "homo oeconomicus"), findet sich in meinem Beitrag "Glücksforschung - Konsequenzen für die (Wirtschafts-) Politik", der Anfang 2012 in der Zeitschrift "Wirtschaftsdienst" erschienen ist ([
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Die auf diesem Beitrag fußende erweiterte und überarbeitete Fassung
"Zur Verwendung von "Subjektive Indikatoren" in der (Wirtschafts-) Politik - eine grundsätzliche Kritik am Sachverständigenrat Wirtschaft (SVR)"
findet sich im Anhang zu dieser E-Mail.
"Im Gegensatz zu den Regeln von Wissenschaftstheoretikern, die empfehlen, Hypothesen dadurch zu überprüfen, dass man sie zu widerlegen versucht, suchen Menschen (und recht häufig auch Wissenschaftler) eher nach Daten, die mit ihren gegenwärtigen Überzeugungen vereinbar sind. Die Bestätigungstendenz von System 1 (des Dualen Handlungssystems, Anm. d. Verf.) begünstigt die unkritische Annahme von Vorschlägen und überzeichnet die Wahrscheinlichkeit *******r und unwahrscheinlicher Ereignisse.“
Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 107f.
In der Verhaltensökonomik ist dies unter "Confirmation Bias" bekannt (im Einzelnen hierzu etwa Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 105-116).
Es ist natürlich ungemein schwierig, ein Weltmodell, ein Paradigma, dem man seit Jahrzehnten gefolgt ist, mit dem man sozusagen sozialisiert wurde, aufzugeben. Dieses Weltmodell/ Paradigma ist tief im System 1 verwurzelt.
Meine Empfehlung: OECD und das Behavioral Insights Team der britischen Regierung als Ratgeber
Ein wohl weitaus besserer Ratgeber als der SVR sind die OECD und das Behavioral Insights Team der britischen Regierung (im Einzelnen siehe hierzu auch Kap. 1.5. "Glücksforschung (Happines Reserach) - eine gesellschaftspolitische Einordnung in unserem Buch "Gesundes Führen mit Erkenntnissen der Glücksforschung").
Anfang 2014 veröffentlichte die OECD die Studie "Regulatory Policy and Behavioural Economics". Die OECD weist darauf hin, dass es bei der Heranziehung der Erkenntnisse der Behavioural Economics im Rahmen der Regulierung darum geht, die Maßnahmen am tatsächlichen Verhalten der Menschen und nicht am angenommenen auszurichten.
Im Jahr 2011 hat die OECD ihrem "Better Life Index" vorgestellt. Seit Anfang 2014 gibt es dazu auch eine deutschsprachige Homepage ([
Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]). Die Studie "How`s Life - Measuring Well-Being" liegt wissenschaftlich dem "Better Life Index" der OECD zugrunde. Die zweite Auflage dieser OECD-Studie erschien Ende 2013. 2013 hat die OECD auch ein Handbuch mit Richtlinien für eine -weltweit- standardisierte Messung des subjektiven Wohlbefindens im Rahmen ihrer "Better Life Initiative" veröffentlicht (OECD Guidelines on Measuring Subjective Well-being [
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Im Vorwort zu den „Guidelines“ schreibt die OECD:
“Understanding and improving well-being requires a sound evidence base that can inform policymakers and citizens alike where, when, and for whom life is getting better. These Guidelines have been produced under the OECD’s Better Life Initiative – a pioneering project launched in 2011, which aims to measure society’s progress across eleven domains of well-being, ranging from income, jobs, health, skills and housing, through to civic engagement and the environment. Subjective well-being – i.e. how people think about and experience their lives – is an important component of this overall framework. To be most useful to governments and other decision-makers, however, subjective well-being data need to be collected with large and representative samples and in a consistent way across different population groups and over time.
These Guidelines mark an important turning point in our knowledge of how subjective wellbeing can, and should, be measured. Not long ago, the received wisdom was that “we don’t know enough” about subjective well-being to build it into measures of societal progress. However, as the evidence documented in these Guidelines shows, we in fact know a lot – perhaps more than we realised until we gathered all the relevant material for this report – and in particular that measures of subjective well-being are capable of capturing valid and meaningful information. However, like all self-reported measures, survey-based measures of subjective well-being, are sensitive to measurement methodology. A large part of this report is therefore devoted to explaining some of the key measurement issues that both data producers and users need to know about. Comparable data require comparable methods, and a degree of standardisation that will require both determination and co-operation to achieve.”
Und die OECD weiter: “Subjective well-being data can provide an important complement to other indicators already used for monitoring and benchmarking countries performance, for guiding people’s choices, and for designing and delivering policies. Measures of subjective well-being show meaningful associations with a range of life circumstances, including the other dimensions of well-being explored in the Better Life Initiative. However, because a variety of factors affect how people experience and report on their lives, including factors such as psychological resilience in the face of adversity, and potential cultural and linguistic influences that are not currently well-understood, subjective well-being can only tell part of a person’s story. These data must therefore be examined alongside information about more objective aspects of well-being, to provide a full and rounded picture of how life is.”
Am 20. März 2014 fand in Berlin das Symposium "Well-Being: ein neuer Ansatz für Gutes Regieren und die Politikberatung" statt, das von der Bertelsmann-Stiftung ausgerichtet wurde ([
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Auf diesem Symposium wurde der Report "Wellbeing and Policy", an dem u.a. Richard Layard (London School of Economics), Martine Durand (Chefstatistikerin der OECD) und David Halpern (Leiter des Behavioural Insights Team der britischen Regierung) mitgewirkt haben, vorgestellt ([
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David Halpern führte dabei aus, dass die Politik der Regierung sich an der Verbesserung des subjektiven Wohlbefindes (insbes. gemessen an der Zufriedenheit mit dem Leben) der Menschen ausrichten müsse (siehe hierzu auch das nachstehende Zitat von Ben Bernanke), wofür die Erkenntnisse der Glücksforschung zentral seien. Bei der Umsetzung der Politik müsse allerdings das tatsächlich beobachtbare Verhalten der Menschen zugrunde gelegt werden, nicht ein angenommenes sowie dies in der Ökonomie meist der Fall sei.
"Auf der Suche nach Politiken zur Förderung des Wohlergehens arbeitet die Wissenschaft an der Entwicklung von Modellen, die widerspiegeln, wie Menschen sich wirklich verhalten (Behavioral Economics, Anmerk. KR) und nicht so, wie sie sich den traditionellen Modellen zufolge verhalten sollten (nämlich gemäß der homo oeconomicus-Annahme der Neoklassik, Anmerk. KR). Um den Erfolg dieser Politiken bewerten zu können, muss die Veränderung im Wohlergehen gemessen werden." (aus der deutschen Zusammenfassung des Reports [
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"The ultimate purpose of economics, of course, is to understand and promote the enhancement of wellbeing."
Ben Bernanke, Chef der US-Zentralbank (bis Ende Januar 2014), August 2012,
zitiert nach Wellbeing and Policy, Legatum Institute, Report 2014, verfasst von Gus O´Donnell (Frontier Economics, London), Angus Deaton (Princeton University), Martine Durand (OECD Paris), David Halpern (Behavioural Insights Team der britischen Regierung, London) und Richard Layard (London School of Economics), S. 14
Der aktuelle Spiegel (Nr.1 vom 29.12.2014, S. 22-24) berichtet unter der Überschrift "Die Glückbringer" über diese Initiative: "Nun sind die Regierenden auf der Suche nach neuen Formaten, um die Bürger wieder stärker zu beteiligen. Und auf der Suche nach dem Glück. ... Kein Wunder, dass es im Kanzleramt bereits konkrete Erwartungen an die Nabelschau bei den Deutschen gibt. Lebensqualität (das Kanzleramt würde "Well-being" oder Wohlergehen bevorzugen, so der Spiegel, Anmerk. KR) , so heißt es, sei nicht nur Wirtschaftswachstum. "Die Spannbreite reicht von einem glücklichen Familienleben über Freundschaften und Gesundheit und Bildung bis hin zu Beruf und angemessenem Einkommen", sagte Merkel im Juni."
Damit ist die Bundesregierung voll auf der Höhe der aktuellen weltweiten Diskussion.
“More and more world leaders are speaking about the importance of wellbeing as a guide for their nations and the world,” said Professor Jeffrey Sachs. “As the world negotiates the new Sustainable Development Goals, or SDGs, for the period 2015-2030, the World Happiness Report is helping to support the inclusion of wellbeing measures among the SDG indicators. The World Happiness Report offers rich evidence that the systematic measurement and analysis of subjective wellbeing (SWB) can teach us a lot about ways to improve human wellbeing in the sustainable development era.”. ([
Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]). Professor Jeffrey D. Sachs ist neben Professor John F. Helliwell und Lord Richard Layard Mitherausgeber des UN-World-Happiness Reports, der bisher zweimal, und zwar 2012 und 2013 erschienen ist.
In der Einleitung zum UN-World-Happiness-Report 2013, der im September 2013 veröffentlicht wurde, wird u.a. das Engagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel gewürdigt:
"In conclusion, there is now a rising worldwide demand that policy be more closely aligned with what really matters to people as they themselves characterize their lives. More and more world leaders including German Chancellor Angela Merkel, South Korean President Park Geun-hye and British Prime Minister David Cameron, are talking about the importance of well-being as a guide for their nations and the world." (S. 5; Link: [
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Mit den besten Wünschen für ein glückliches 2015!
Ihr
Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel
Fakultät Betriebswirtschaft
Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm
[
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