[Wornat1959]

Vorweg das Geburtstagsvideo der CDU weil es zum Verständnis des Artikels erheblich beiträgt ... (ist auch im Artikel verlinkt).


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Dann der Artikel - eine Kolumne von Mely Kiyak bei Zeit-Online:

Kiyaks Deutschstunde / CDU-Geburtstagsvideo
Kohl kommt auch vor
Eine Kolumne von Mely Kiyak



Die CDU feiert ihren 75. Geburtstag mit einem Video. Sehr viele Worte, Musik, schnell und laut. Quentin Tarantino ist nichts dagegen.

1. Juli 2020, 11:55 Uhr 28 Kommentare

Die Idee bestand ursprünglich darin, [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] zu besprechen, den die CDU dem deutschen Volk [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ] schenkt. Der Clip heißt 75 Jahre. Der Film und dauert zwei Minuten. Womit die erste Enttäuschung bereits beschrieben ist.

An sich keine große Sache. Man klickt, guckt und protokolliert. Vollkommene Unvoreingenommenheit ist natürlich strikte Bedingung. Jetzt keine Sperenzchen und blöden Vorurteile. Die CDU ist der Harald Juhnke unter den deutschen Parteien. Alte Bundesrepublik, Messingkratzhand am Haken, Schnaps nach dem Mittagessen, Likörchen um drei, Bierchen zum Abendbrot. Ein Deutschland, dessen Kernkompetenz darin bestand, alle Zettel, Blätter und Formulare abzustempeln. Denkt man an die CDU, denkt man an das gute alte besoffene Stempeldeutschland. Ein bisschen Meinung wird doch wohl gestattet sein.

Als deutsche Version von Dorothy Parker hat man als Gesellschaftskritikerin und Zeitgeistchronistin natürlich die Aufgabe, fair und neutral zu sein. Es gilt, sämtliche Gedankengirlanden niederzureißen und auf stilistische Sahnehäubchen und Cocktailkirschen zu verzichten. Apropos Cocktailkirsche. Ist dieser pikante Witz allseits bekannt, wo der Pennäler im Puff mit der Cocktailkirsche? Hahahaha! Hrmmpfh, hrmmpfh, 'tschuldigung, kurz abhusten. Das ist ungefähr der durchschnittliche Lieblingswitz eines durchschnittlichen CDU-Wählers. Genauso hat man es in einer x-beliebigen Lokalität einer x-beliebigen Stadt gehört, dort wo die "gute alte CDU" noch den Bürgermeister stellt. Im Westen – das gehört zur neuen politischen Achtsamkeit, dass man das immer dazusagen muss. Im CDU-Westen ist dieses Repertoire schier unerschöpflich. Im CDU-Westen, wo die Männer noch aussehen wie Dieter Krebs und Manfred Krug und die Frauen wie Uschi Glas und Ingrid Steeger. Ja, wie sahen denn die von der SPD aus, fragen jetzt sicher wieder einige aus dem Osten. Ganz klar, in der alten West-SPD sieht man unabhängig von Alter und Geschlecht immer aus wie Inge Meysel.

Sehr viele Worte!

Die CDU ist die zweitälteste Partei Deutschlands, aber man könnte schwören, sie wäre die älteste. Mitgliederstruktur, 75 Prozent Männer, [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], fast die Hälfte ihrer Wähler ist [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]. Die Globalisierung ist auch bei ihnen angekommen, klar, sie leben ja nicht auf dem Mond. Man sagt jetzt sicherlich seit zehn, fuffzehn Jahren Carport und nicht mehr Garage und zur Eineinhalbzimmerbutze unterm Dach statt Einliegerwohnung das international geläufigere Apparchtemeng. Über das Ost-CDU-Feeling müssten andere politische Ethnologen Auskunft geben. So aus der exotischen Ferne der Westhemisphäre würde man sagen, verfolgen die CDU-Ossis seit einigen Jahren den sehnlichen Wunsch, dass es "so etwas wie 2015" niemals wieder geben darf, und man nimmt ihnen das kein bisschen übel, es ist halt die Ostvariante des "Nie wieder!".

Ach ja, der Clip. Es kamen Worte vor. Einmal stand da "Achtung". Und ein anderes Mal stand da "Verantwortung". Es waren sehr viele Worte. Immer in unterschiedlichen Farben und Größen. Im Takt der Musik. Musik bitte in Anführungszeichen. So als wenn ein Schlagzeugspieler übt, ganz schnell und laut, und dann, wie gesagt, Worte. Aussöhnung, ja genau, Aussöhnung war auf jeden Fall dabei! Und Nato, aber nicht "Achtung Nato" und "Achtung Aussöhnung", sondern getrennt voneinander. Mehr konnte man auf die Schnelle nicht erkennen.

Es muss auf jeden Fall eine Warnung vor dem CDU-Geburtstagsvideo erfolgen. Der ganze Film wirkt wie eine Ladung Stromstöße vom Defibrillator. Worte und Bilder im Stakkato, Tarantino ist ein Witz dagegen. Bereits nach 60 Sekunden fühlt man sich wie ein schlaffer Körper, der mit aufgerissener Bluse und zwei Elektroschockern auf der Brust vom Teppich hochgedonnert wird. Für die Herzinfarktrisikogruppe ist das mit Sicherheit nichts. Das Video zerkloppt einem komplett die "Pumpe". Ein Grüner würde an so einer Stelle immer sagen, seine Sinuskurve sei beeinträchtigt und schluckt ein Kügelchen.

Es sind bestimmt gute Botschaften

Das CDU-Deutschland ist identisch mit der Werbezielgruppe des ZDF-Vorabendprogramms. In dieser Konsumentengruppe muss man nachts öfter raus, hat Blähungen oder Parodontose, und Flüssigkeiten, die von etlichen Produkten diskret aufgefangen werden sollen, sind generell blau eingezeichnet. Diesen Leuten kann man nicht so ein Video vorsetzen! "PLÖTZLICH. WIEDER. KRISE." Als hätte da jemand Wortfindungsstörungen und auf die Frage, was er sich von der CDU wünscht, nur noch stammelnd antworten können: "Kohl." Kohl kommt auch vor.

Die weiteren 60 Sekunden des Videos kann man nicht erläutern, weil es selbst für einen mittelalten Menschen mit moderner Seherfahrung unmöglich ist, die Menge an Botschaften zu entziffern. Man geht aber ganz fest davon aus, dass es gute Botschaften sind. Bestimmt sind es sehr gute Botschaften.

Das Wort Modernisierung kam nicht vor. Das ist einem bei dem Begriffsgewitter dann doch nicht entgangen. Kein Problem, totales Verständnis. Wenn eine Partei aus Protest gegen ihre langjährige Kanzlerin einen Neuanfang mit einem Ex-Politiker aus den Tiefen der Bundesrepublik rauskramt (Friedrich Merz) und die jungen Politiker sich am alten, also korrupten Verhalten der Altvorderen orientieren, sie in Duktus, Auftritt und Attitüde nachahmen (Philipp Amthor), dann muss man zwingend auf so ein Wort wie Modernisierung verzichten. Wer braucht schon Modernisierung?

Erhard raucht noch

Du kannst einen 70-Jährigen nicht zwingen, sich die Toiletten mit jemandem zu teilen, den er nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen kann. Das muss der CDU-Wähler aber wissen, denn die alte Welt funktioniert so. Frauen in die Küche, Hunde an den Hundestrand und nach einer Portion Currywurst mit Pommes nicht gleich wie Walross ins Becken platschen, sondern erst mal Nickerchen. Das ist so, das bleibt so. Ach Gottchen, binäres System! Als ob man jeden auf Anhieb zuordnen könnte. Hat mit dem Clip auch nur deshalb zutun, weil die aktuelle CDU-Parteivorsitzende das Thema im Rahmen eines humoristischen Auftritts während einer Versammlung von perückten Amüsierfreudigen problematisierte.

Annegret Kramp-Karrenbauer wurde übrigens auch in dem Clip eingeblendet, kurz nach dem Wort "Frauenbewegung". Ludwig Erhards Zigarre sah man ebenfalls. Das ist der Unterschied zwischen der CDU und den Grünen. In der einen Partei steht die Zigarre für Wohlstand, freie Märkte und Elektrogeräte im Haushalt, für die andere Partei ist sie Ausdruck von CO2-Ausstoß. Wie das eines Tages mal mit diesen beiden Parteien zusammengehen soll, weiß man nicht so recht, außer dass man im Rahmen von identitätspolitischer Bilderstürmung dem Erhard die Handelsgold No. 1 wegretuschieren könnte und ihm eine Ohrkerze in den Gehörgang montiert.

Angesichts der feierlichen Atmosphäre, in die man sich hineinjubiliert hat, sei an den ersten Absatz [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ], vom 26. Juni 1945, erinnert. Denn im Anfang steckt alles drin, und das hätte sich als Clip vielleicht auch nicht schlecht gemacht:

"Deutsches Volk! In der schwersten Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist, ruft die Partei Christlich-Demokratische Union Deutschlands aus heißer Liebe zum deutschen Volk die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte zur Sammlung, zur Mitarbeit und zum Aufbau einer neuen Heimat. Aus dem Chaos von Schuld und Schande, in das uns die Vergottung eines verbrecherischen Abenteurers gestürzt hat, kann eine Ordnung in demokratischer Freiheit nur entstehen, wenn wir uns in den kulturgestaltenden, sittlichen und geistigen Kräften des Christentums besinnen und diese Kraftquelle unserem Volk immer mehr erschließen.

Herzlichen Glückwunsch, altes Haus

Quelle: [ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]